Leitsatz
Ein Augenblicksversagen ist allein noch kein Grund, den Schuldvorwurf der groben Fahrlässigkeit herabzustufen, wenn die objektiven Merkmale der groben Fahrlässigkeit gegeben sind (hier: Überfahren eines Rotlichtsignals).
Normenkette
§ 61 VVG
Sachverhalt
Die Kl. verlangte von der Bekl., ihrem Kaskoversicherer, Schadenersatz für ihr Fahrzeug aus einem Verkehrsunfall. Auf der gut ausgebauten und übersichtlichen Kreuzung stieß sie mit dem Pkw eines anderen Verkehrsteilnehmers zusammen und erlitt an ihrem Fahrzeug einen Totalschaden. Die Kl. hatte übersehen, dass die Ampel an der Kreuzung für sie Rotlicht zeigte. Die Bekl. behauptete, die Ampel habe bereits längere Zeit Rot gezeigt, als die Kl. in die Kreuzung eingefahren sei, denn der andere unfallbeteiligte Fahrer sei beim Umschalten der Ampel auf Grün aus dem Stand gefahren und habe sich bereits mitten auf der Kreuzung befunden, als er mit dem Fahrzeug der Kl. zusammenstieß. Die Kl. sei mit unverminderter Geschwindigkeit von 60 km/h in die Kreuzung eingefahren.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat bis auf einen Teil des Zinsanspruchs der Klage stattgegeben. Die Revision der Bekl. hatte Erfolg. Nach der Entscheidung des BGH hat die Kl. den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt.
Das Berufungsgericht war zwar davon ausgegangen, dass die Kl. objektiv grob fahrlässig gehandelt hat, als sie die Ampel bei Rot überfuhr. Es meinte aber, die subjektiven Voraussetzungen für die Wertung dieses Verhaltens als grob fahrlässig lägen nicht vor. Der Rotlichtverstoß beruhe auf einem Augenblicksversagen. Die Kl. habe bei ihrer Anhörung angegeben, die Ampel während der Annäherung ständig beobachtet zu haben. Sie habe subjektiv den Eindruck gehabt, diese zeige fortwährend grünes Licht, so dass sie der Meinung gewesen sei, die Kreuzung überqueren zu dürfen. Dies sei - so das Berufungsgericht - so zu erklären, dass die Kl. kurzfristig geistesabwesend gewesen sei, denn sonst hätte sie das Umspringen des Ampellichts von Grün auf Gelb und Rot bemerken müssen. Die Kl. sei nicht in Eile gewesen. Mit etwa 60 km/h sei sie auf der gut ausgebauten Landstraße nicht besonders schnell gefahren. Darin sei ein Ausnahmefall zu sehen, bei dem das Verhalten der Kl. eine minder schwere Beurteilung verdiene.
Nach der Entscheidung des BGH hat die Kl. den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt. Das Berufungsgericht habe den Begriff der groben Fahrlässigkeit verkannt.
In seiner Begründung führte der BGH aus, nach ständiger Rechtsprechung des BGH gelte für den Begriff der groben Fahrlässigkeit nicht ein ausschließlich objektiver, nur auf die Verhaltensanforderungen des Verkehrs abgestellter Maßstab. Vielmehr seien auch Umstände zu berücksichtigen, die die subjektive, personale Seite der Verantwortlichkeit betreffen. Subjektive Besonderheiten könnten im Einzelfall im Sinne einer Entlastung von dem schweren Vorwurf der groben Fahrlässigkeit ins Gewicht fallen.
In jüngster Zeit habe die Rechtsprechung vermehrt grobe Fahrlässigkeit deshalb verneint, weil der Handelnde nur für einen Augenblick versagte. Das sei dann rechtsfehlerhaft, wenn nicht noch weitere subjektive Umstände hinzukämen, die es rechtfertigten, im Einzelfall unter Abwägung aller Umstände den Schuldvorwurf geringer als grob fahrlässig zu werten.
Der Ausdruck "Augenblicksversagen" beschreibe nur den Umstand, dass der Handelnde für eine kurze Zeit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht ließ. Dieser Umstand allein sei kein ausreichender Grund, den Schuldvorwurf der groben Fahrlässigkeit herabzustufen, wenn die objektiven Merkmale der groben Fahrlässigkeit gegeben seien. Eine Vielzahl der Fälle unbewusster Fahrlässigkeit, insbesondere bei Regelverstößen im Straßenverkehr, beruhten gerade darauf, dass der Handelnde für eine kurze Zeit unaufmerksam sei und das an ihn gerichtete Gebot oder Verbot übersehe. Dass der VN an die erhöhte Gefahr oder an die gebotene Verhaltensalternative nicht gedacht habe, sei typisch für die Fälle der unbewussten Fahrlässigkeit und schließe für sich allein die Möglichkeit einer groben Fahrlässigkeit noch nicht aus. Vielmehr müssten weitere, in der Person des Handelnden liegende besondere Umstände hinzukommen, die den Grund des momentanen Versagens erkennen und in einem mildernden Licht erscheinen ließen. Das habe das Berufungsgericht verkannt. Soweit es sich für seine Auffassung auf die Entscheidung des BGH (BGH, Urteil v. 5.4.1989, IVa ZR 39/88 - VersR 840) berufe, übersehe es, dass in jenem Fall besondere Umstände in der Person des Kl. vorgetragen worden seien, die den Vorwurf eines auch subjektiv unentschuldbaren Verhaltens entfallen lassen konnten (die Kl. litt an Hirnleistungsschwäche und Gefäßsklerose, die ihr Gedächtnis- und Konzentrationsvermögen beeinträchtigten). Schuldmindernd könne auch zu berücksichtigen sein, wenn das Augenblicksversagen seine Ursache in einer Konzentrationsschwäche habe, die darauf beruhe, dass der Handelnde mit einer bestimmten Tätigkeit dauernd beschäftigt se...