Dr. Tibor Szocs, Dr. Ádám Tóth
Rz. 108
Dem mündlichen Nottestament kommt im System des ungarischen Erbrechts eine Sonderstellung zu. Sein Ausnahmecharakter wird bereits im Gesetz deklariert; es wird auch nach dem Inhalt der Regelung als eine außerordentliche Testamentsform angesehen. Das mündliche Nottestament ist nicht für die Anwendung durch Analphabeten bestimmt; vielmehr ermöglicht es die Testamentserrichtung denjenigen Personen, die in einer ihr Leben bedrohenden außerordentlichen Lage sind und ein schriftliches Testament nicht errichten können.
Rz. 109
Für die mündliche letztwillige Verfügung gelten folgende zwei Voraussetzungen:
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das Bestehen einer das Leben bedrohenden außerordentlichen Lage und |
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die Unfähigkeit des Testators, das Testament in einer anderen Form zu errichten. |
Rz. 110
Es handelt sich hierbei um zwei kumulative Voraussetzungen, d.h., sie müssen bei der Errichtung des Testaments gemeinsam – d.h. gleichzeitig und nebeneinander – erfüllt werden. Fehlt eine der beiden Voraussetzungen bei der Errichtung des mündlichen Nottestaments, ist das Testament ungültig. Beide Voraussetzungen müssen objektiv vorliegen, d.h., wenn sich der Erblasser unwohl fühlt, jedoch nicht in einer das Leben drohenden außerordentlichen Lage ist, gilt das Testament als nicht errichtet, da eine der beiden Voraussetzungen fehlt.
Rz. 111
Wenn der Erblasser, der sich in einer sein Leben bedrohenden außerordentlichen Lage befindet, sich nach seiner Aufnahme ins Krankenhaus auf die Errichtung des Testaments vorbereitet, auch die Zeugen zu sich ruft, immerhin vor dem Tag der Errichtung des mündlichen Nottestaments und auch in den folgenden Tagen in einem Zustand ist, in dem er zur Unterzeichnung seines Namens fähig ist, und es für ihn keine große Belastung gewesen wäre, das Testament den Zeugen zu diktieren, dann fehlt die zweite Voraussetzung.
Rz. 112
Der Ausnahmecharakter des mündlichen Testaments wird auch durch eine Sonderregel über die Wirksamkeit eines solchen Testaments hervorgehoben: Wenn der Erblasser innerhalb eines ununterbrochenen Zeitraums von 30 Tagen nach dem Wegfall der der mündlichen Testamentserrichtung zugrunde liegenden Notlage ohne Schwierigkeiten ein schriftliches Testament hätte errichten können, so verliert das mündliche Testament von Gesetzes wegen seine Wirksamkeit.
Rz. 113
Praxishinweis: Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass es beim Vorliegen eines mündlichen Nottestaments einer umfangreichen Beweisaufnahme bedarf. In der ungarischen Erbrechtspraxis kommt es relativ häufig vor, dass die Erben – wenn der Erblasser ohne Verfügung von Todes wegen stirbt – versuchen, nachträglich ein Testament zu "schaffen". Es handelt sich hierbei in vielen Fällen nicht um eine bewusste "Verfälschung" durch die Erben. Der Erblasser hat nämlich in vielen Fällen vermutlich wirklich erwähnt, dass jemand nach ihm erben soll; die gesetzlichen Voraussetzungen, diese Erklärung als mündliches Testament zu betrachten, liegen allerdings oft nicht vor, z.B. weil der Erblasser zur Zeit dieser Willenserklärung nicht in einer sein Leben bedrohenden Notlage war. Diese Fälle führen oft zu Erbstreitigkeiten; in den meisten Prozessen stellt sich dann heraus, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gültigkeit eines mündlichen Nottestaments nicht erfüllt worden sind. Bei Ausarbeitung des neuen Ptk. wurde daher in Erwägung gezogen, die Möglichkeit der mündlichen Errichtung eines Testaments völlig abzuschaffen. Überraschenderweise war es gerade der richterliche Berufsstand, der dieses Rechtsinstitut verteidigt hat. Abgesehen von der hohen Belastung der Gerichte sprechen nach h.M. auch andere Erwägungen gegen das mündliche Nottestament. Es stellt sich die Frage, wie objektiv eine in einer das Leben gefährdenden außerordentlichen Lage errichtete letztwillige Verfügung sein kann, wie beschränkt die Einsichts- und dadurch die Testierfähigkeit, das Bewusstsein und die Entscheidungsfähigkeit eines Menschen zwischen Leben und Tod in einer solchen Lage sind.