Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hat den Gesetzgeber Ende April in einer "Initiativstellungnahme" nachdrücklich zu Reformen im Strafprozess aufgefordert. Sie kritisiert insb. eine Diskrepanz zwischen der Urteilsabsetzungs- und der Revisionsbegründungsfrist. Hier treffen, so die BRAK, zwei Probleme aufeinander, die sich gegenseitig potenzieren und zu extremen Diskrepanzen und letztlich zur Beschneidung von Rechtsmittelmöglichkeiten im Strafprozess führen:
Dies sei einerseits die nach oben hin nicht begrenzte Frist für die Urteilsabsetzung gem. § 275 Abs. 1 StPO; andererseits bleibe es für die Begründung der Revision stets bei der starren Frist des § 345 Abs. 1 StPO von einem Monat.
Als besonders plakatives Beispiel führt die BRAK ein kürzlich ergangenes Urteil des OLG München an, das auch durch die Medien gegangen ist. In diesem Verfahren wurde das 3.025 Seiten lange Urteil bereits am 11.7.2018 mündlich verkündet, jedoch erst jetzt – unter beinahe punktgenauer Wahrung der am 22.4.2020 ablaufenden Frist von 93 Wochen – abgesetzt. Hieraus ergeben sich nach Auffassung der BRAK mehrere praktische Probleme, die durch eine Reform vermieden werden könnten:
- Bei sehr umfangreichen Verfahren verlängere sich die Absetzungsfrist für das Urteil gem. § 275 Abs. 1 S. 1 bis 3 StPO. Eine gesetzliche absolute Obergrenze existiere nicht.
- Während der Wartezeit auf die Urteilsbegründung befänden sich Beschuldigte teilweise noch in Untersuchungshaft und müssten darauf warten, dass die für sie eingelegte Revision gegen das Urteil begründet werden könne.
- Der Verteidigung bleibe ab Urteilszustellung ein Monat Zeit, um das ggf. mehrere tausend Seiten umfassende Urteil zu prüfen und die Revision zu begründen. Neben der Urteilsbegründung müsse den Verteidigern dazu auch das Hauptverhandlungsprotokoll erst noch zugestellt werden.
Die BRAK fordert daher, die Urteilsabsetzungsfrist zeitlich stärker zu begrenzen und ggf. nach Umfang des Verfahrens zu staffeln. Zudem müsse die Frist zur Begründung der Revision an die Absetzungsfrist angeglichen werden und dürfe erst dann zu laufen beginnen, wenn der Verteidigung auch das Protokoll der Hauptverhandlung zugegangen sei.
"Die aufgezeigten Diskrepanzen haben wir bereits mehrfach kritisiert. Es ist aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten dringend erforderlich, hier schnellstmöglich nachzubessern", begründete Ulrike Paul, Vizepräsidentin der BRAK und selbst Fachanwältin für Strafrecht, die Forderung ihrer Kammer an den Gesetzgeber. "Die aktuelle gesetzliche Regelung beschneidet Beschuldigtenrechte und nimmt der Verteidigung bei besonders umfangreichen Verfahren die Möglichkeit, Rechtsmittel umfassend vorzubereiten. Ich halte es nicht für sachgerecht, die Fristen für das Gericht ohne Obergrenze zu verlängern, für die Verteidigung hingegen nicht."
[Quelle: BRAK]