Das Unionsrecht verlangt, dass die EU-Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass einem unbegleiteten Minderjährigen so bald wie möglich ein Vertreter bestellt wird. Dies entschied kürzlich der VGH Baden-Württemberg und gab einem eingereisten Ausländer Recht, der behauptete, noch minderjährig zu sein und sich dagegen wehrte, dass das zuständige Ausländeramt ihn wieder aus der für Minderjährige vorgesehenen vorläufigen Inobhutnahme i.S.d. § 42a Abs. 1 S. 1 SGB VIII entlassen hatte (VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 9.4.2024 – 12 S 77/24).
In dem Fall hatte die Stadt Freiburg den Eingereisten aufgrund seiner behaupteten Minderjährigkeit vorläufig in Obhut genommen und in einer geeigneten Einrichtung untergebracht. Das zuständige Jugendamt bezweifelte anschließend jedoch, dass der Eingereiste tatsächlich minderjährig ist und führte ein Altersfeststellungsverfahren durch. Dieses führte zu dem Ergebnis, dass der Ausländer bereits volljährig ist; infolge dessen beendete die Stadt die vorläufige Inobhutnahme. Gegen diese Entscheidung wehrte sich der Betroffene, indem er gerichtlich vorläufigen Rechtsschutz begehrte. Damit hatte er sowohl vor dem VG als auch vor dem VGH Erfolg.
Artikel 24 Abs. 1 Unterabs. 1 S. 1 der Richtlinie 2013/33/EU verlangt, dass die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass einem unbegleiteten Minderjährigen, der einreist und sich auf internationalen Schutz beruft, so bald wie möglich ein Vertreter bestellt wird, der ihn vertritt und unterstützt, damit jener die Rechte aus der Aufnahmerichtlinie in Anspruch nehmen und den sich hieraus ergebenden Pflichten nachkommen kann, stellte der VGH fest. Diese Pflicht der Mitgliedstaaten bestehe bereits dann, wenn eine Person in vertretbarer Weise behaupte, minderjährig zu sein. Die Bestellung eines Vertreters sei nur dann nicht erforderlich, wenn bereits ohne jeden vernünftigen Zweifel offensichtlich sei, dass der Ausländer entgegen seinen Angaben nicht minderjährig sein könne. Eine vorläufige Inobhutnahme und eine Vertreterbestellung zum Schutz des Minderjährigen seien deshalb bereits dann möglich und geboten, wenn das Alter des jungen Menschen noch nicht sicher festzustellen sei und die Behörde erwäge, ein Altersfeststellungsverfahren durchzuführen.
Diese Auslegung des EU-Rechts stehe derzeit allerdings in Widerspruch zum aktuellen Recht in Deutschland, befand der VGH. Denn der hiesige Gesetzgeber habe es versäumt, die zuständigen Behörden zu verpflichten, einem nach § 42a Abs. 1 SGB VIII vorläufig in Obhut genommenem ausländischen Kind oder einem ausländischen Jugendlichen bereits während der behördlichen Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII einen Vertreter im oben dargelegten Sinn zu bestellen. Eine Vertretung des Minderjährigen durch das Jugendamt, wie sie durch § 42a Abs. 3 S. 1 SGB angeordnet werde, genüge hierfür nicht; denn das Jugendamt leiste keine umfassende Vertretung i.S.d. EU-Vorgabe und sehe sich zudem in einer Interessenkollision, da es auch für die Altersfeststellung zuständig sei.
Weil hier also derzeit eine Regelungslücke bestehe, sei das EU-Recht unmittelbar anwendbar. EU-Richtlinien seien zwar grds. nicht auf unmittelbare Anwendbarkeit angelegt und bedürften jeweils der Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH könne eine Richtlinie jedoch dann unmittelbare Wirkungen entfalten, wenn ein Mitgliedstaat die (korrekte) Umsetzung versäumt habe.
[Quelle: VGH BW]