Zusammenfassung
Häufig verteidigen Berufsanfänger auch in Bußgeldverfahren. Die damit zusammenhängenden Fragen spielen in der Praxis eine große Rolle, vor allem, wenn es um straßenverkehrsrechtliche Ahndungen geht. Die nachfolgenden Ausführungen geben einen ersten (allgemeinen) Überblick zum Bußgeldverfahren.
I. Gegenstand des Bußgeldverfahrens
Geregelt ist das Bußgeld- oder OWi-Verfahren im OWiG. Verfolgt wird in diesen Verfahren sog. Verwaltungsunrecht. Das sind rechtwidrige und vorwerfbare Verstöße gegen die durch Verwaltungsvorschriften geschaffene öffentliche Ordnung (§ 1 Abs. 1 OWiG). Hauptanwendungsfall für das OWiG sind Verstöße im Straßenverkehr (StVG/StVO). Es kann aber z.B. auch im Steuerrecht zu einem Bußgeldverfahren kommen (vgl. §§ 377 ff. AO). Da es sich "nur" um Verwaltungsunrecht handelt, gibt es im Bußgeldverfahren keinen "Angeklagten" oder "Beschuldigten", sondern einen "Betroffenen".
II. Verfahrensprinzipien
Im Bußgeldverfahren gilt nicht – wie im Strafverfahren nach den §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1, 163 Abs. 1 StPO – das sog. Legalitätsprinzip, sondern nach den §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 1 S. 1 OWiG das sog. Opportunitätsprinzip. Das stellt eine Verfolgung in das pflichtgemäße Ermessen der Verfolgungsbehörde.
III. Allgemeine Verfahrensvorschriften im Bußgeldverfahren
1. Anwendbarkeit der Grundsätze der StPO (§ 46 OWiG)
Verfolgungsbehörde ist im Bußgeldverfahren die jeweilige Verwaltungsbehörde, die grds. dieselben Rechte und Pflichten wie die Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Straftaten hat. Nach § 46 Abs. 1 OWiG gelten im Bußgeldverfahren grds. die Vorschriften über das Strafverfahren, also die der StPO, des GVG und des JGG entsprechend (vgl. dazu Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 2958 ff. [im Folgenden: Burhoff/Bearbeiter, OWi]). Nach § 46 Abs. 2 OWiG sind im Bußgeldverfahren folgende Eingriffe/Zwangsmaßnahmen unzulässig: Anstaltsunterbringung, Verhaftung und vorläufige Festnahme nach den §§ 81, 112–131 StPO (§ 46 Abs. 3 OWiG), Postbeschlagnahme sowie Überwachung der Telekommunikation (§§ 99–100, 100g–100i StPO; § 46 Abs. 3 OWiG), erhebliche körperliche Eingriffe und molekulargenetische Untersuchungen (§§ 81a Abs. 1 S. 2, 81e i.V.m. 46 Abs. 4 OWiG).
2. Akteneinsichtsrecht (§ 49 OWiG)
Auch im Bußgeldverfahren haben der Betroffene/Verteidiger ein Akteneinsichtsrecht. Ohne Kenntnis der Akten kann sich der Betroffene im OWi-Verfahren – ebenso wie im Strafverfahren – nicht wirksam verteidigen, wenn er die ihm zur Last gelegten Umstände kennt (für das straßenverkehrsrechtliche Bußgeldverfahren: Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 168 ff. und Cierniak zfs 2012, 664, 669).
Hinweis:
Es gilt auch im OWi-Verfahren der allgemeine Grundsatz, dass nicht allein aufgrund der vom Mandanten gegebenen Informationen bereits eine Stellungnahme bei der Polizei oder der Bußgeldstelle abgegeben werden sollte. Der Verteidiger sollte zudem auf jeden Fall zunächst Akteneinsicht nehmen.
Für die Akteneinsicht im Bußgeldverfahren gelten grds. die allgemeinen Regeln der Akteneinsicht im Strafverfahren (zu den Einzelheiten Göhler/Seitz, OWiG, 18. Aufl. 2012, § 60 Rn 48 ff. m.w.N., § 49 Rn 1 ff.; Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 165 ff.; für das Strafverfahren Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl., 2022, Rn 218 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff/Bearbeiter, Rn). Zuständig für die Akteneinsicht im vorbereitenden Verfahren ist die Verwaltungsbehörde, die das Verfahren durchführt (Meyer DAR 2010, 109). Berechtigt zur Akteneinsicht ist zunächst der Verteidiger des Betroffenen. Im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde hat der Betroffene – unter Aufsicht – ein eigenes Akteneinsichtsrecht (§ 49 Abs. 1 OWiG) (dazu Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 180 ff.). Die Akteneinsicht durch den Betroffenen selbst steht im Ermessen der Verwaltungsbehörde.
Für die Gewährung von Akteneinsicht muss der Verteidiger keine schriftliche Vollmacht vorlegen. Es genügt seine Versicherung, er sei bevollmächtigt (VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 28.1.2021 – VGH B 71/20, zfs 2021, 173 m. Anm. Burhoff StRR 3/2021, 27; BGHSt 36, 259, 260; BGH StraFo 2010, 339; KG VRS 122, 34, VRR 2012, 74, StRR 2012, 147; OLG Brandenburg VRS 117, 305; OLG Jena VRS 108, 276; OLG Koblenz VRS 94, 219; OLG Köln StRR 2011, 479; OLG München StV 2008, 127; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, vor § 137 Rn 9; Willnow in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, § 147 Rn 3; Burhoff/Burhoff, EV, Rn 235 m.w.N.; Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 183; s. wohl auch BVerfG NJW 2012, 141 m. Anm. Burhoff StRR 2011, 426).
Hinweis:
Im Hinblick auf § 51 Abs. 3 S. 1 OWiG und die sich daraus ergebende Zustellungsmöglichkeit (Verjährungsunterbrechung nach § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 9 OWiG) ist dringend davon abzuraten, eine (schriftliche) Vollmacht vorzulegen (zu den Vollmachtsfragen Burhoff/Burhoff, OWi, Rn 4067 ff.; Burhoff/Burhoff, EV, Rn 5026 ff.; Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl., 2022, Rn 3826 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff/Bearbeiter, HV, Rn]).
Wird Akteneinsicht versagt, kann abweichend von den sonstigen Rechtsmitteln bei Versagung/Beschränkung von Akteneinsicht...