Der Anspruch auf rechtliches Gehör führt, als Ausdruck der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) zu strengen Anforderungen an die richterliche Verfahrensführung. Diese soll garantieren, dass die Verfahrensbeteiligten vor Gericht zu Wort kommen, ihr Vorbringen berücksichtigt wird und kein Überraschungsurteil ergeht (s. etwa M-L/K/L/S/Keller, SGG § 62 Rn 1 und Ruland/Becker/Axer/Flint, Sozialrechtshandbuch [im Folgenden: SRH/Verf.], 7. Aufl. 2022, § 13 Rn 6). Ein anschauliches Beispiel für eine massive Gehörsverletzung ist dem vom BSG am 10.6.2021 – B 9 V 1/21 B aufgehobenen Berufungsurteil des 6. Senats des LSG BW zu entnehmen, von dem Dreher, jurisPR-SozR 24/2021, Anm. 6 schreibt: „Ein deutlicheres Beispiel für eine Überraschungsentscheidung lässt sich kaum (er-)finden.” Nicht jede Gehörsverletzung nach § 62 ist gleichzeitig ein Verfassungsverstoß nach Art. 103 GG. Die Grenze zur Verfassungswidrigkeit ist erst überschritten, wenn die fehlerhafte Auslegung/Anwendung des einfachen Rechts in einer nicht mehr verständlichen und offensichtlich unhaltbaren Weise erfolgt (BVerfG, Beschl. 1.7.2021 – 2 BvR 890/20, NJW 2021, 2955). Am gleichen Tag wie das BSG (s.o.) hat das BVerfG die Behandlung eines Terminverlegungsantrag durch den oben erwähnten 6. Senat des LSG Baden-Württemberg als Verstoß gegen Art. 103 GG angesehen (BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 10.6.2021 – 1 BvR 1997/18, NJW 2021, 3384; hierzu Keller, jurisPR Soz-R 23/2021, Anm. 3). Europarechtlich ergänzt werden die Vorschriften des nationalen Rechts durch Art. 47 Abs. 2 EU-Grundrechtscharta und Art. 6 Abs. 1 der europäischen Menschenrechtskonvention. Dort wird von einem Anspruch auf ein faires Verfahren gesprochen. Ein Anspruch hierauf wird auch in Deutschland als grundrechtsgleiches Recht angesehen, hergeleitet aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (s. BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 25.9.2018 – 2 BvR 1731/18, juris Rn 22). Dieses Recht deckt sich weitgehend mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör, kann aber zusätzlich zu Mitwirkungs- und Verfahrenspflichten der Gerichte gegenüber den Beteiligten führen (SRH/Flint, § 13 Rn 404 f. m.w.N.).
Hinweis:
Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs beinhaltet auch die Verpflichtung des Gerichts, die Beteiligten von allen auch nur möglicherweise erheblichen Tatsachen aus Prozessvorgängen zu unterrichten. So sind nach § 108 S. 2 die eingereichten Schriftsätze den übrigen Beteiligten von Amts wegen mitzuteilen. Die Mitteilungspflicht gilt für alle Schriftsätze ohne Rücksicht auf ihren Inhalt und erstreckt sich auch auf Anlagen zu dem Schriftsatz. Ohne Mitteilung eines tatsächlichen Vortrags an die übrigen Beteiligten darf das Gericht das Urteil auf solchen Vortrag nicht stützen (§ 128 Abs. 2, s. ferner M/K/L/S/Schmidt, SGG, § 108, Rn 4 f.).
Zur besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung bei der Verwirklichung des Grundsatzes auf rechtliches Gehör s. oben Ziff. 2.
Zur Klageänderung kraft Gesetzes nach § 96 SGG bei Erlass eines neuen Bescheids durch die Beklagte nach Klageerhebung s. Teil 1 (ZAP 2023, 820).