I. Vorbemerkung
Eines der Hauptbetätigungsfelder in der mietrichterlichen Praxis ist die Behandlung von Räumungsklagen, die infolge einer Eigenbedarfskündigung erhoben werden. Die Anzahl der Räumungsklagen hat sich in den letzten fünf Jahren im Amtsgerichtsbezirk München geschätzt verdoppelt, was durchaus eng mit der Entwicklung des Mietwohnungsmarktes zusammenhängen dürfte. In nahezu allen Fällen wird mieterseits der behauptete Eigenbedarf in zulässiger Weise mit Nichtwissen bestritten, sodass über den jeweiligen Eigenbedarfsgrund i.d.R. Beweis erhoben werden muss. In der Mehrzahl der Fälle werden zudem mieterseits soziale Härtegründe nach §§ 574, 574a BGB (i.d.R. ärztlich attestierte Gesundheitsbeeinträchtigungen einschließlich psychischer Erkrankungen) vorgetragen und eine Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit verlangt. Unabhängig vom Ausgang des Räumungsrechtsstreits ergeben sich für die Vermieterpartei hierdurch erhebliche praktische Probleme im Zusammenhang mit der Dauer des streitigen Räumungsrechtsstreits, sodass die widerstreitenden Interessen der Parteien häufig durch einen Räumungsvergleich mit Zahlung einer festen Geldsumme mit am besten verwirklicht werden können.
II. Allgemeine Grundsätze der Eigenbedarfskündigung
1. Vorliegen eines berechtigten Nutzungsinteresses
Ein berechtigtes Interesse ist gegeben, wenn der Vermieter die Räume der Wohnung für sich oder eine Person des privilegierten Personenkreises benötigt, wobei im Rahmen der durchzuführenden Interessenabwägung die verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen des Art. 14 GG in besonderem Maße zu beachten sind (Staudinger/Rolfs, Neubearbeitung 2018, Stand: 30.3.2020, § 573 BGB Rn 63). Die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie des Art. 14 GG wirkt zudem sowohl zugunsten des Vermieters, der zugleich Eigentümer der vermieteten Wohnräume ist, als auch zugunsten des Mieters, dessen Besitzrecht ausnahmsweise auch vom Schutzbereich des Art. 14 GG erfasst wird (BVerfG, Beschl. v. 26.5.1993 – 1 BvR 208/93, NJW 1993, 2035). Der Mietrichter hat im Räumungsprozess eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls zu treffen, welche auch die widerstreitenden Interessen der Mietparteien umfassen. Am Ende der richterlichen Abwägung muss sich der Mietrichter eine Überzeugung dahingehend gebildet haben, dass der Eigenbedarfskündigung ein vernünftiges und billigenswertes Interesse des Vermieters zugrunde liegt, die Wohnung zurückzubekommen (vgl. Schmidt-Futterer/Blank, 14. Aufl. 2019, § 573 BGB Rn 42 f.). Die konkreten Interessen des Mieters an der Beibehaltung seiner Wohnung entfalten nicht schon im Rahmen von § 573 BGB, sondern erst bei der Prüfung der Sozialklausel des § 574 BGB Rechtswirkungen (Staudinger/Rolfs, Neubearbeitung 2018, Stand: 30.3.2020, § 573 BGB Rn 25a u. Rn 67 m.w.N.).
Praxistipp:
Bei Räumungsklagen wird von Mieteranwälten häufig übersehen, dass etwaige schutzbedürftige Interessen des Mieters – vom generellen Interesse des Mieters auf Beibehaltung der Wohnung einmal abgesehen – nicht bereits bei der Frage der materiellen Wirksamkeit der Eigenbedarfskündigung berücksichtigt werden können, sondern erst im nachgelagerten Härtefallwiderspruchsverfahren nach §§ 574, 574a BGB.
2. Maßgeblicher Zeitpunkt des Nutzungsinteresses
Das konkrete Interesse des Vermieters an der Rückgabe der Wohnräume muss bereits im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung (vgl. § 130 Abs. 1 BGB) vorliegen und bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist des § 573c BGB andauern, ein Wegfall des Interesses nach Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist ist nach richtiger und vorherrschender Meinung ohne Relevanz für die Wirksamkeit der Kündigung (BGH, Urt. v. 9.11.2005 – VIII ZR 339/04, NJW 2006, 220 und BGH, Urt. v. 27.6.2007 – VIII ZR 271/06, NJW 2007, 2845; Palandt/Weidenkaff, 79. Aufl. 2020, § 573 BGB Rn 29; a.A. nach wie vor Schmidt-Futterer/Blank, 14. Aufl. 2019, § 573 BGB Rn 74). Sofern das konkrete Nutzungsinteresse nicht bereits bei Zugang der Kündigung vorlag, ist diese als sog. Vorratskündigung unwirksam (BGH, Urt. v. 29.3.2017 – VIII ZR 44/16, WuM 2017, 432; Staudinger/Rolfs, Neubearbeitung 2018, Stand: 30.3.2020, § 573 BGB Rn 66 m.w.N.). Für den praxisrelevanten Fall des Wegfalls des Nutzungsinteresses im Zeitraum des Zugangs der Kündigung bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist verstößt eine Weiterverfolgung des Räumungsanspruchs gegen § 242 BGB, sodass der Vermieter den Mieter vom Wegfall seines Nutzungsinteresses in Kenntnis setzen muss und aus dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben dazu verpflichtet ist, dem Mieter einen Vertrag über die Aufhebung der Kündigungswirkungen bzw. über den Fortlauf des Mietverhältnisses anzubieten, den der Mieter gem. § 151 BGB auch konkludent durch die tatsächliche Fortsetzung des Mietverhältnisses annehmen kann.(vgl. Schmidt-Futterer/Blank, 14. Aufl. 2019, § 573 BGB Rn 42 u. 73 f. m.w.N.).
3. Darlegungs- und Beweislast
Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Vermieter die Darlegungs- und Beweislast für den geltend gemachten Eigenbedarf (Palandt/Weidenkaff, 79. Aufl. 2020, § 573 BGB Rn 32). Sofern der Mieter den behaupteten Nutzungswunsch des Vermieters zulässig mit Nichtwissen gem. § 138 Abs. 4 ...