Die Entscheidung (BAG, Urt. v. 1.10.2020 – 2 AZR 247/20) beantwortet die Frage: Kann eine Kündigungsschutzklage die Frist des § 4 S. 1 KSchG wahren, obwohl der Arbeitnehmer in der Klageschrift entgegen § 253 Abs. 4 i.V.m. § 130 Nr. 1 ZPO seinen Wohnort nicht angibt?
Zum Sachverhalt: Die beklagte Arbeitgeberin kündigte als Viertkündigung außerordentlich, hilfsweise ordentlich nach Zustimmung des Integrationsamtes, die am 9.1.2012 der Arbeitgeberin zugestellt wurde. Die Arbeitgeberin versuchte am 10.1.2012 erfolglos, eine Kündigung zuzustellen. Der Kläger hatte den Postfachauftrag gekündigt und die Weisung erteilt, keine Post anzunehmen. Die Prozessbevollmächtigten der Beklagten wandten sich mit Schreiben vom 11.1.2012 an den Prozessbevollmächtigten des Klägers aus dem Vorverfahren und bat diesen unter Fristsetzung bis zum 12.1.2012 erfolglos um eine Bestätigung, dass er nicht empfangsbevollmächtigt sei. Der Arbeitgeberin gelang am 20.2.2012 der Zugang der Kündigung unter der Postfachanschrift. Der Kläger hat am 27.1.2012 Kündigungsschutzklage gegen eine Kündigung, datiert vom 9.1.2012 erhoben, die der Beklagten am 7.2.2012 zugestellt wurde. Der schwerbehinderte – mit Haftbefehl gesuchte – Kläger gab eine Postfachanschrift in der Klageschrift gegen die Viertkündigung an. Das Datum der Kündigung hat der Kläger am 28.2.2012 auf den 10.1.2012 berichtigt.
Die Klage vor dem BAG war erfolgreich. Die außerordentliche, fristlose Kündigung war auf die bevorstehende Strafhaft gestützt. Das stellt jedoch keinen wichtigen Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB dar. Die hilfsweise ordentliche Kündigung scheiterte an § 88 Abs. 3 SGB IX. Nach § 88 Abs. 3 SGB IX a.F. (§ 171 SGB IX n.F.), muss die Kündigung innerhalb der Monatsfrist erfolgen. Erteilt das Integrationsamt die Zustimmung zu einer beabsichtigten ordentlichen Kündigung, kann der Arbeitgeber sie gem. § 88 Abs. 3 SGB IX a.F. nur innerhalb eines Monats nach Zustellung des die Zustimmung enthaltenden Bescheids erklären. Die in dieser Vorschrift bestimmte Kündigungserklärungsfrist ist eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist. Ihr sachlicher Regelungsgehalt besteht in einer zeitlich beschränkten Aufhebung der gesetzlichen Kündigungssperre, weil der Arbeitgeber nur eine befristete Erlaubnis, die beabsichtigte ordentliche Kündigung auszusprechen, erhält.
Maßgeblich für die Wahrung der Vollzugsfrist ist trotz des missverständlichen Wortlauts von § 88 Abs. 3 SGB IX a.F. der Zugang der Kündigung beim Arbeitnehmer gem. § 130 BGB. Dieser soll innerhalb der Monatsfrist Kenntnis davon erlangen, ob die Kündigung erfolgt ist oder der Arbeitgeber von ihr Abstand genommen hat. Wird die Frist nicht gewahrt, kommt eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand selbst bei schuldloser Fristversäumnis nicht in Betracht.
Der Arbeitnehmer kann sich aber nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht auf den verspäteten Zugang der Kündigung berufen, wenn er die Überschreitung der Monatsfrist selbst zu vertreten hat. Er muss sich dann so behandeln lassen, als habe der Arbeitgeber diese gewahrt. Ob das der Fall ist, richtet sich nach den für die Zugangsvereitelung von Willenserklärungen geltenden Grundsätzen. Das war vorliegend nicht der Fall. Eine Ausnahme von § 88 Abs. 3 SGB IX ist nicht zu bejahen, weil die Arbeitgeberin oder deren Prozessbevollmächtigter keinen unverzüglichen neuen Versuch nach der fehlgeschlagenen Zustellung vornahm.
Hinweise:
Die Antwort des BAG kann nicht überraschen. Das zeigt der Vergleich mit der Frage: Wahrt eine unzulässige Kündigungsschutzklage die Klagerhebungsfrist des § 4 S. 1 KSchG? Ja, auf die Zulässigkeit kommt es für die Fristwahrung des § 4 S. 1 KSchG nicht an. Entscheidend ist allein, ob die Kündigungsschutzklage den Anforderungen von § 4 S. 1 KSchG genügt, indem die (wirksame) Klage dem Arbeitgeber fristgerecht Klarheit verschafft, ob der Arbeitnehmer eine bestimmte Kündigung hinnimmt oder ihre Unwirksamkeit gerichtlich geltend machen will.
Die Dreiwochenfrist (ohne rückwirkende Heilung gem. § 295 ZPO: vgl. dazu BAG, Urt. v. 26.6.1986 – 2 AZR 358/85, a.a.O. oder ohne eine nachträgliche Klagezulassung nach § 5 KSchG) ist von vornherein gewahrt, wenn die folgenden fünf Voraussetzungen kumulativ gewahrt sind:
a) Die Klagschrift rechtzeitig eingereicht ist,
b) sie von einer postulationsfähigen Person unterzeichnet ist, die sie – als solche und nicht als bloßen Entwurf – verantwortet (§ 253 Abs. 4 i.V.m. § 130 Nr. 6 ZPO),
c) aus ihr die Parteien (§ 253 Abs. 2 Nr. 1 ZPO),
d) die angefochtene Kündigung (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) sowie
e) der Wille des Arbeitnehmers, die Unwirksamkeit dieser Kündigung gerichtlich feststellen zu lassen, ersichtlich sind (vgl. BAG, Urt. v. 31.3.1993 – 2 AZR 467/92, zu B. II. 2. b) cc) der Gründe, a.a.O.).
Demgegenüber rechnen die in § 253 Abs. 4 i.V.m. § 130 Nr. 1–5 ZPO bestimmten Angaben weder zu den Mindestanforderungen an eine wirksame Klageerhebung noch werden sie von § 4 S. 1 KSchG verlangt. Dann aber kommt es auch auf die fehlende Anschrift nicht an (vgl...