Einer der Generalanwälte des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hat kürzlich die Hoffnung von Arbeitnehmern gestärkt, dass nicht genommener Urlaub in bestimmten Fällen doch nicht verjährt. In einem Fall, der dem EuGH vom deutschen Bundesarbeitsgericht vorgelegt wurde und der eine Steuerfachangestellte betrifft, erläutert Generalanwalt Richard de la Tour, dass aus seiner Sicht jeder Arbeitgeber seinen Teil dazu beitragen muss, dass der Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers nicht verfällt. So müsse er etwa alle Beschäftigten rechtzeitig auf den noch nicht genommenen Urlaub und entsprechende Fristen hinweisen (s. EuGH, Schlussanträge vom 5.5.2022 – Rs. CâEUR‘120/21).
Der Hintergrund des Falls: Eine deutsche Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin hatte während ihrer Beschäftigung in einer Steuerkanzlei im Kalenderjahr Anspruch auf 24 Arbeitstage Erholungsurlaub. Anfang März 2012 bescheinigte ihr der Arbeitgeber schriftlich, dass ihr Resturlaubsanspruch von 76 Tagen aus dem Kalenderjahr 2011 sowie den Vorjahren am 31.3.2012 nicht verfallen werde, weil sie den Urlaub wegen des hohen Arbeitsaufwands in der Kanzlei nicht habe antreten können. In den Jahren 2012 bis 2017 gewährte der Arbeitgeber ihr insgesamt 95 Urlaubstage. Ihren gesetzlichen Mindesturlaub nahm die Beschäftigte somit nicht vollständig in Anspruch. Allerdings wurde sie weder aufgefordert, weiteren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahrs oder des Übertragungszeitraums verfallen könnte.
Nach Ende ihrer Beschäftigung verlangte die Arbeitnehmerin dann im Jahr 2018 klageweise die Abgeltung von 101 Tagen bezahlten Jahresurlaubs aus dem Jahr 2017 und den Vorjahren, dieâEUR™sie noch nicht genommen hatte. Der Arbeitgeber vertritt jedoch die Ansicht, der in Rede stehende Urlaub sei verfallen. Er habe seine Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten seinerzeit nicht kennen und befolgen können, weil sich die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Entscheidungen vom 19.2.2019 geändert habe. Zudem sei er nicht zur Urlaubsabgeltung verpflichtet, weil die Urlaubsansprüche, deren Abgeltung jetzt verlangt werde, auch verjährt seien. Während das Landesarbeitsgericht der Klägerin vor dem Hintergrund der neueren EuGH- und BAG-Rechtsprechung zum Verfall des Urlaubsanspruchs zum überwiegenden Teil Recht gab, hatte das BAG immerhin Zweifel, weil der EuGH auch anerkannt hatte, dass nationales Recht die Verjährbarkeit vorsehen kann, sofern "der Äquivalenz- und der Effektivitätsgrundsatz beachtet würden".
In seinen Schlussanträgen, die sozusagen das vorbereitende Rechtsgutachten für die richterliche Entscheidung darstellen, erläutert de la Tour zunächst, dass die deutschen Regelungen im Hinblick auf die Verjährungsfrist selbst noch nicht europarechtlich problematisch sind. Kritisch sei vielmehr der Beginn des Laufs der Frist: Für diesen muss seines Erachtens auf den Ablauf des Jahres abgestellt werden, in dem der Arbeitgeber seiner Hinweisobliegenheit nachgekommen ist, denn zu diesem Zeitpunkt sei davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer von seinem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub i.S.v. § 199 Abs. 1 BGB "Kenntnis erlangt" habe. Daraus ergebe sich, dass – wie im Ausgangsverfahren – die Verjährungsfrist nicht zu laufen beginnen könne, solange der Arbeitgeber seiner Hinweisobliegenheit nicht nachgekommen sei. In diesem Sinne müsse das deutsche Verjährungsrecht unionsrechtskonform ausgelegt werden.
Sollte der EuGH den Schlussanträgen seines Generalanwalts folgen – was er in der Mehrzahl der Fälle tut – dann müssen Arbeitgeber in Zukunft präziser darauf achten, wann und welche Hinweise sie ihren Arbeitnehmern über noch nicht genommene Urlaubsansprüche geben, wenn sieâEUR™nicht riskieren wollen, dass die Ansprüche auch langfristig nicht verjähren.
[Quelle: EuGH/Red.]