Der BGH hat die Hürden für Schadens-ersatzklagen von Diesel-Käufern in Deutschland deutlich gesenkt. Fahrzeughersteller müssen demnach auch dann zahlen, wenn sie fahrlässig gehandelt haben, entschied der sog. Diesel-Senat Ende Juni in drei Musterfällen (BGH, Urt. v. 26.6.2023 – VIa ZR 335/21, ZAP EN-Nr. 399/2023 und VIa ZR 533/21, ZAP EN-Nr. 400/2023 sowie VIa ZR 1031/22).
Hintergrund der Rechtsprechungsänderung in Karlsruhe war eine aktuelle Entscheidung des EuGH (Urt. v. 21.3.2023 – C-100/21). Darin hatten die Luxemburger Richter festgestellt, dass sog. Thermofenster, also Abschalteinrichtungen in der Abgasreinigung, die zwar zum Schutz des Motors im Prinzip zulässig sind, in ihrer konkreten Konfiguration jedoch europarechtliche Vorgaben verletzen, illegal sind und auf jeden Fall einen Schadensersatzanspruch der Fahrzeugkäufer nach sich ziehen müssen. Bislang gestand der BGH den Dieselkunden einen deliktischen Schadensersatz nur zu, wenn Hersteller vorsätzlich-sittenwidrig illegale Abschalteinrichtungen eingebaut hatten, wie im Falle der aufgedeckten VW-Prüfstandserkennung; bei lediglich fahrlässig-illegaler Abschalteinrichtung verneinte der BGH einen deliktischen Anspruch.
Gestützt auf den aktuellen EuGH-Spruch gesteht nun auch der BGH den fahrlässig geschädigten Diesel-Käufern einen Schadensersatz zu, allerdings nicht den sog. großen Schadensersatzanspruch. Habe der Hersteller nicht sittenwidrig vorsätzlich gehandelt, könne der Käufer – entsprechend der ständigen bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung – auf der Grundlage der §§ 826, 31 BGB nicht verlangen, dass der Fahrzeughersteller das Fahrzeug zurücknehme und den Kaufpreis abzüglich vom Käufer erlangter Vorteile erstatte. Ein solcher Anspruch komme nach wie vor nur bei einem arglistigen Verhalten des Fahrzeugherstellers in Betracht.
Da der EuGH bei der Ausgestaltung des Schadensersatzanspruchs auf das jeweilige nationale Recht verwiesen hatte, musste der BGH nun allerdings neue Maßstäbe finden, um auch bei einem fahrlässigen Verstoß gegen das europäische Abgasrecht einen effektiven und verhältnismäßigen Schadensersatzanspruch gewähren zu können. Er verortete den Anspruch der von illegalen Thermofenstern betroffenen Pkw-Käufern bei 5 bis 15 % des Kaufpreises des Fahrzeugs, wobei in gewissen Konstellationen Nutzungen angerechnet werden müssten. Er begründete diese Spanne mit der drohenden Betriebsuntersagung, die die Verfügbarkeit des Fahrzeugs infrage stelle. Daraus folge der Erfahrungssatz, dass der Käufer das Fahrzeug nicht zu dem vereinbarten Preis gekauft hätte. Die Tatrichter der unteren Instanzen müssten nun in der vom Dieselsenat genannten Spanne selbst festlegen, welchen Prozentsatz sie genau ansetzen wollen, eines Sachverständigengutachtens bedürfe es nicht.
Ob den Fahrzeugherstellern allerdings tatsächlich Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden kann, hatte der BGH nicht zu entscheiden. Mehrere mit Dieselfällen befasste OLG waren bereits der Auffassung, dass die Hersteller nicht fahrlässig gehandelt haben, sondern vielmehr einem unvermeidbaren Verbotsirrtum unterlegen waren, denn grds. sind Thermofenster gesetzlich erlaubt. Von daher stellt sich jetzt die Frage, welche Bedeutung die Rechtsprechungsänderung beim BGH in der Praxis tatsächlich haben wird. Mit Blick auf die Vorlage zum EuGH waren hierzulande etwa 2.000 Fälle „auf Eis” gelegt worden; weitere zehntausende Fälle sind in den unteren Instanzen anhängig. Während einige Experten damit rechnen, dass diese Klagen nun schneller und einfacher entschieden werden können, sind andere skeptischer. Sie verweisen darauf, dass nun möglicherweise um einen „unvermeidbaren Verbotsirrtum” seitens der Hersteller gestritten werden könnte und halten es für wahrscheinlich, dass sich der BGH künftig erneut mit der Fahrlässigkeitshaftung bei solchen Abschalteinrichtungen beschäftigen muss. Dann könnte es darum gehen, ob die unteren Instanzen bei der Bejahung oder Verneinung eines unvermeidbaren Verbotsirrtums die richtigen Maßstäbe angesetzt haben.
[Red.]