Ausgangspunkt ist ein Verfahren vor dem Sechsten Senat, in dem die Parteien über die Auflösung ihres Arbeitsverhältnisses durch eine ordentliche Kündigung der Arbeitgeberin vom Dezember 2020 zum 31.3.2021 streiten. Eine nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige wurde nicht erstattet und auch vor dem 31.3.2021 nicht nachgeholt. Der Sechste Senat möchte – wie bereits beide Vorinstanzen – die Kündigungsschutzklage des Klägers vollumfänglich abweisen und künftig die Auffassung vertreten, das Fehlen oder die Fehlerhaftigkeit einer nach Unionsrecht oder nationalem Recht erforderlichen Massenentlassungsanzeige soll individualrechtlich sanktionslos bleiben. § 17 KSchG sehe eines solche Sanktion nicht vor. Die Entscheidung müsse der deutsche Gesetzgeber treffen, wenn er eine „Sanktion” für Fehler im Anzeigeverfahren bei Massenentlassungen normieren wolle. Dem steht die Rspr. des Zweiten Senats des BAG entgegen, die bisher eine ohne notwendige vorherige Massenentlassungsanzeige erklärte Kündigung für nichtig (unwirksam) hält. (Divergenzvorlage: BAG, Beschl. v. 14.12.2023 – 6 AZR 157/22 [B] – Rn 7, 22, 32 und Rn 35, NZA 2024, 119).
Hat die Götterdämmerung für das Anzeigeverfahren der Massenentlassung begonnen?
Der EuGH hat auf Vorlage des Sechsten Senats (EuGH, Urt. v. 13.7.2023 – C-134/22 „G GmbH”, NZA 2023, 888) und in einer weiteren rumänischen Entscheidung eindeutig klargestellt, dass Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) nicht den Zweck verfolge, den von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren, sondern einen kollektiven Schutzzweck verfolge. Der Sechste Senat hat in der Folge Klartext gesprochen: Fehler des Anzeigeverfahrens bewirken auf der gegenwärtigen Gesetzeslage keine Unwirksamkeit der Kündigung. Der Sechste Senat sieht als Sanktion für das Fehlen einer Entlassungsanzeige ebenso wie für alle anderen denkbaren Fehler des Arbeitgebers im Anzeigeverfahren nicht die Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB.
Der gegenwärtige Streit der Senate geht um die Hilfsbegründungen: (1) Die Unwirksamkeitsanordnung folge nicht aus der angeordneten Entlassungssperre (§ 18 KSchG). Sie stelle die Kündigungen unter einen staatlichen Genehmigungsvorbehalt – bewirke aber nicht deren Unwirksamkeit. (2) Eine Unwirksamkeitsanordnung – sei es über § 134 BGB oder § 18 KSchG – auch nicht über das Unionsrecht geboten. (2.1) Die Unwirksamkeit der Kündigungen wegen des Verstoßes arbeitsförderungsrechtlicher Pflichten sei nicht mit dem Gebot der Verhältnismäßigkeit vereinbar, weil sie schon nicht geeignet sei, die arbeitsmarktpolitischen Ziele zu fördern. Die Unwirksamkeit setze auf individuell-arbeitsvertraglicher Ebene an und nicht auf der Ebene des Arbeitsförderungsrechts. (2.2) Die Sanktion wäre auch nicht angemessen, da sie die unternehmerische Freiheit massiv einschränke, ohne einen entsprechenden Mehrwert für die Arbeitsförderung zu generieren. Die durch die Sanktion eintretende Belastung stehe nicht mehr in einem vernünftigen Verhältnis zu den dadurch eintretenden Vorteilen für die Durchsetzung des arbeitsmarktpolitischen Ziels.
Der Zweite Senat tritt der „Folgenlosigkeit” einer fehlenden oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige und damit der Begründung des Sechsten Senats zu § 18 KSchG entgegen und hat deshalb erneut den EuGH angerufen (BAG, Vorlagebeschl. v. 1.2.2024 – 2 AS 22/23 (A), NZA 2024, 257). Er stellt folgende Fragen:
Zitat
„1. Ist Art. 4 Abs. 1 ... MERL dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist?
Sofern die erste Frage bejaht wird:
2. Setzt das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraus, sondern muss diese den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL genügen?
3. Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, eine solche mit der Folge nachholen, dass nach Ablaufen der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?
Sofern die erste und die zweite Frage bejaht werden:
4. Ist es mit Art. 6 MERL vereinbar, wenn das nationale Recht es der zuständigen Behörde überlässt, für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?”