I. Einführung
Fragen des betrieblichen Gesundheitsmanagements werden im Zeitalter des demografischen Wandels und damit einhergehenden größeren Anteils älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und des zunehmenden Fachkräftemangels immer mehr an Bedeutung gewinnen. Letztendlich hängt die Produktivität auch von der Arbeitsfähigkeit der Belegschaft ab, denn hohe Fehlzeiten ziehen nicht nur Entgeltfortzahlungskosten nach sich, sondern auch Mehrarbeit der übrigen Belegschaft.
Hinzu kommen auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite einige Unsicherheiten. Der Arbeitgeber fragt sich z.B., welche Auswirkungen ein unterlassenes betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) auf eine mögliche spätere Kündigung hat. Der Arbeitnehmer ist verunsichert, inwieweit er über seine Gesundheit und seine familiären Umstände Auskunft geben muss oder ob er das BEM auch ablehnen kann.
Hinweis:
Das SGB IX wurde durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) vom 23.12.2016 vollkommen neu strukturiert. Die Regelung über das betriebliche Wiedereingliederungsmanagement nach § 84 Abs. 2 SGB IX (a.F.) findet sich nun fast unverändert in § 167 Abs. 2 SGB IX (n.F.). Nachfolgend werden nur die Paragrafen des SGB IX (n.F.) verwendet. Zur Darstellung der Neuerungen im Recht der Rehabilitation und Teilhabe einschließlich Synopse von relevanten Vorschriften des SGB IX alt und neu s. Siefert ZAP F. 18, S. 1571 ff.
II. Ziele und Nutzen des BEM
Ziel ist die Überwindung und das Vorbeugen erneuter Arbeitsunfähigkeit und der Erhalt des Arbeitsplatzes. Damit werden einerseits der Gedanke der Gesundheitsprävention und die Vermeidung von Arbeitslosigkeit auf der Arbeitnehmerseite als auch die Verringerung von Arbeitsunfähigkeitszeiten und die Reduzierung von betrieblichen Belastungen wie Mehrarbeit anderer Mitarbeiter und Entgeltfortzahlungskosten auf der Arbeitgeberseite miteinander verbunden.
Das BAG beschreibt das BEM als einen rechtlich regulierten, kooperativen, verlaufs- und ergebnisoffenen Suchprozess durch die beteiligten Akteure, die sich im Einvernehmen mit dem Betroffenen einen Überblick über seine Gesundheitslage und sein Teilhaberisiko verschaffen und individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln (BAG, Urt. v. 10.12.2009 – 2 AZR 400/08, NZA 2010, 398; v. 10.12.2009 – 2 AZR 198/09, NZA 2010, 639).
Hinweis:
Jedes BEM sollte von den Prinzipien Freiwilligkeit und Vertraulichkeit sowie von systematischen Verfahrensabläufen und Transparenz getragen sein, um die Akzeptanz bei allen Akteuren zu sichern und sachgerechte praxistaugliche Lösungen zu finden.
III. Abgrenzungsfragen
Das BEM-Verfahren ist zunächst vom Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX zu unterscheiden; das Präventionsverfahren ist nur anzuwenden auf schwerbehinderte oder gleichgestellte Arbeitnehmer und betrifft alle Arbeitgeber (auch Kleinbetriebe, die nicht der Ausgleichabgabe unterliegen). Hier hat der Arbeitgeber die Pflicht, bei personen-, verhaltens- und betriebsbedingten Schwierigkeiten beim Integrationsamt einen Antrag zu stellen mit dem Ziel, eine Kündigung des Arbeitnehmers zu vermeiden.
Das Präventionsverfahren und das BEM unterscheiden sich sowohl in den Voraussetzungen als auch in der Zielgruppe und in der Zielsetzung.
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Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX |
BEM nach § 167 Abs. 2 SGB IX |
Voraussetzung |
alle Probleme am Arbeitsplatz, personen-, verhaltens- und betriebsbedingt |
sechswöchige Arbeitsunfähigkeit |
Adressat |
alle Arbeitgeber, auch in Kleinbetrieben außerhalb des KSchG |
nur Arbeitgeber, die dem Anwendungsbereich des KSchG unterliegen |
Zielgruppe |
nur schwerbehinderte Arbeitnehmer (GdB 50 und höher) bzw. gleichgestellte Arbeitnehmer (GdB 30 oder 40) |
alle Arbeitnehmer (auch schwerbehinderte und gleichgestellte) |
Einleitung |
Pflicht des Arbeitgebers, sich mit der Schwerbehindertenvertretung, dem Betriebsrat und dem Integrationsamt zu koordinieren |
Pflicht des Arbeitgebers; aber auch Betriebsrat und Arbeitnehmer können initiativ tätig werden |
Verfahren |
extern über Integrationsamt |
intern über Betrieb, nur im Bedarfsfall werden Externe hinzugezogen |
Ziel |
Vermeidung von Kündigung, dauerhafte Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses |
Überwindung von Arbeitsunfähigkeit und Prävention vor erneuter Arbeitsunfähigkeit |
Das BEM-Verfahren ist von dem allgemeinen Krankenrückkehrgespräch abzugrenzen. Ein Krankenrückkehrgespräch erfolgt auf Wunsch des Arbeitgebers erst nach Gesundung des Arbeitnehmers und nach Rückkehr an den Arbeitsplatz. Es findet im Rahmen des Fehlzeitenmanagements des Arbeitgebers statt. Verweigert der Arbeitnehmer das Krankenrückkehrgespräch, kann dies u.U. als nebenvertragliche Pflichtverletzung mit einer Abmahnung geahndet werden.
Von der stufenweisen Wiedereingliederung bis zur vollen Erlangung der Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers nach § 44 SGB IX, § 74 SGB V spricht man, wenn der Arbeitnehmer arbeitsunfähig ist und Krankengeld bezieht und z.B. durch stufenweise Erhöhung der täglichen Arbeitszeit und/oder durch bestimmte Auflagen (z.B. kein Heben von Gegenständen über 10 kg) wieder an die volle Leistun...