1. Eingriffsvoraussetzungen
Nach § 1666 Abs. 1 BGB haben die Familiengerichte die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes gefährdet ist und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, diese Gefahr abzuwenden. Nach der – von Literatur und Praxis kritisierten (z.B. Heilmann NJW 2014, 2904; Heilmann/Salgo FamRZ 2014, 705; Hammer FF 2014, 428) – strengen Rechtsprechung des BVerfG genügt es dabei nicht, wenn mit einem weiteren Verbleib des Kindes im elterlichen Haushalt für dieses eine mittel- oder langfristige Gefährdung verbunden wäre (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 24.3.2014 – 1 BvR 160/14, BVerfG FF 2014, 295). Der gerichtliche Eingriff in die elterliche Sorge setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist (BVerfG, Beschl. v. 19.11.2014 – 1 BvR 1178/14, FamRZ 2015, 112; v. 23.4.2018 – 1 BvR 383/18, FamRZ 2018, 1084) oder zumindest eine Gefahr gegenwärtig schon in einem solchen Maß besteht, dass sich bei ihrer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (BVerfG FamRZ 2012, 1127; BGH, Beschl. v. 26.10.2011 – XII ZB 247/11, FF 2012, 67 m. Anm. Völker FF, 2012, 71; m. Anm. Clausius FF 2012, 255).
Weil bereits der vorläufige Entzug der gesamten Personensorge einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte der Eltern darstellt, sind grds. auch bei einer Sorgerechtsentziehung im Eilverfahren hohe Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung zu stellen. Die Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung sind umso höher, je geringer der möglicherweise eintretende Schaden des Kindes wiegt, in je größerer zeitlicher Ferne der zu erwartende Schadenseintritt liegt und je weniger wahrscheinlich dieser ist (BVerfG, Beschl. v. 13.7.2017 – 1 BvR 1202/17, FamRZ 2017, 1577). Vor der Geburt des Kindes kann die elterliche Sorge nicht entzogen werden, weil die elterliche Sorge erst mit der Geburt entsteht und erst dann ausgeübt werden kann (OLG Frankfurt, Beschl. v. 12.5.2017 – 1 UF 95/17, FamRZ 2018, 190; zu Auflagen an die Mutter des Ungeborenen gem. § 1666 BGB s. AG Wesel, Beschl. v. 15.3.2021 â^’ 33 F 21/21, NZFam 2021, 505).
2. Mögliche Maßnahmen
§ 1666 Abs. 3 BGB zählt einige Maßnahmen auf, die das Familiengericht treffen kann:
- Gebote, öffentliche Hilfen wie z.B. Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,
- Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,
- Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,
- Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,
- die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,
- die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.
Hinweis:
Das Familiengericht kann darüber hinaus aber jede andere Maßnahme treffen, die zur Abwehr der Kindeswohlgefährdung geeignet ist.
Das BVerfG betont stark das Elternrecht. Die Eltern können eigenverantwortlich und grds. frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten wollen (BVerfG, Beschl. v. 17.2.1982 – 1 BvR 188/80, FamRZ 1982, 567). Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern berechtige daher den Staat, die Eltern von der Pflege und Erziehung auszuschließen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 29.1.2010 – 1 BvR 374/09, FamRZ 2010, 713). Es gehöre nicht zur Ausübung des staatlichen Wächteramts, für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen (OLG Köln FamRZ 2013, 1994; OLG Hamm, Beschl. v. 2.4.2009 – II-11’UF 232/08, FamRZ 2009, 1753, 1754). Grundsätzlich sollen die sozio-ökonomischen Verhältnisse der Eltern zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes gehören (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 29.1.2010 – 1 BvR 374/09, FamRZ 2010, 713).
Zudem muss der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet werden (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 17.6.2009 – 1 BvR 467/09, FamRZ 2009, 1472; BGH, Beschl. v. 6.7.2016 – XII ZB 47/15, FamRZ 2016, 1752; OLG Hamm FamRZ 2013, 198). Art und Ausmaß des staatlichen Eingriffs bestimmen sich auch nach dem Grund des elterlichen Versagens und nach dem, was im Interesse des Kindes geboten ist. Aus mehreren gleich gut geeigneten Mitteln muss das am wenigsten beeinträchtigende gewählt werden (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 28.2.2012 – 1 BvR 3116/11, FamRZ 2012, 1127). Aufgabe des Staates sei, vorrangig durch helfende, unterstützende und auf (Wieder-)Herstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der Eltern gerichtete Maßnahmen wie z.B. Hilfen zur Erziehung nach den §§ 27 ff. SGB VIII (EGMR, Urt. v. 21.9.2006 – 12643/02, FamRZ 2006, 1817; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 21.6.2002 – 1 BvR 605/02, FamRZ 2002, 1021) dieses Ziel zu erreichen. Die anzuordnende Maßnahme muss zur Abwehr der Kindeswohlgefährdung effekti...