Das Thema "soziale Gerechtigkeit" wird nicht nur im Bereich des Sozialrechts, sondern auch im politischen Raum lebhaft diskutiert. Mit der Bundestagswahl am 24.9.2017 rückt das Thema "soziale Gerechtigkeit" auch als Wahlkampfthema wieder in den Vordergrund: Ist die Gesellschaft in Deutschland immer ungleicher geworden? Sind sog. prekäre Beschäftigungsverhältnisse sozial gerechtfertigt? Zeit für eine Analyse.
Zunächst stößt man schon bei dem Versuch, den Inhalt des für den gesamten Bereich des Sozialrechts geltenden Begriffs "soziale Gerechtigkeit" zu erfassen, sehr schnell auf Schwierigkeiten. Das beruht u.a. darauf, dass der Gesetzgeber den Begriff zwar häufig verwendet, aber nirgends verbindlich interpretiert. So heißt es in § 1 SGB I: "Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit (...) Sozialleistungen gestalten."
Sozialrechtliche Normen sollen also soziale Gerechtigkeit herbeiführen, das Sozialrecht hat ein menschenwürdiges Dasein zu sichern und für gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu sorgen. Dabei verschafft § 1 SGB I keine Ansprüche auf soziale Leistungen. Er umschreibt vielmehr als Programmsatz die allgemeinen Ziele staatlicher sozialer Aktivitäten. Herleiten aus dieser Norm lässt sich allenfalls die Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland (s. BT-Drucks 7/868).
Der Begriff "soziale Gerechtigkeit" bleibt unbestimmt, unscharf und umstritten. Manche sind der Auffassung, es handele sich um eine nichtssagende Formel. Oder sie sehen die soziale Gerechtigkeit als Feind des wirtschaftlichen Fortschritts. "Anhänger" sozialer Gerechtigkeit befürworten sie als Symbol der Solidarität der Versichertengemeinschaft.
Dadurch, dass man dem Begriff "Gerechtigkeit" das Adjektiv "sozial" hinzufügt, vergrößert man nicht unbedingt seine Verständlichkeit. Feststellen können wir allenfalls: Soziale Gerechtigkeit ist ein Gebot der Sozialstaatlichkeit i.S.v. Art. 20 Abs. 1 GG. Und: Ihre Zielsetzung, eine gerechte Ordnung zu schaffen, erfordert eine strikte Beachtung des Gleichheitsgebotes nach Art. 3 Abs. 3 GG.
Aus der Vielzahl der Stimmen, die sich mit der Thematik "soziale Gerechtigkeit" befasst haben, ist an erster Stelle auf die von Papst Benedikt XVI. angestellten grundlegenden Gedanken hinzuweisen. In seiner ersten Enzyklika "Deus Caritas est" heißt es:
"(...) das Grundprinzip eines Staates [muss] die Verfolgung der Gerechtigkeit sein (...). Das Ziel einer gerechten Gesellschaftsordnung [ist es], unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips jedem seinen Anteil an den Gütern der Gemeinschaft zu gewährleisten. Die Frage der gerechten Ordnung des Gemeinwesens ist (...) mit der Ausbildung der Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert in eine neue Situation eingetreten. Das Entstehen der modernen Industrie hat die alten Gesellschaftsstrukturen aufgelöst und mit der Masse der lohnabhängigen Arbeiter eine radikale Veränderung im Aufbau der Gesellschaft bewirkt, in der das Verhältnis von Kapital und Arbeit zur bestimmenden Frage wurde, (...). Die Produktionsstrukturen und das Kapital waren nun die neue Macht, die, in die Hände weniger gelegt, zu einer Rechtlosigkeit der arbeitenden Massen führte, (...). In der schwierigen Situation, in der wir heute durch die Globalisierung der Wirtschaft stehen, bedürfen wir der Orientierung. Die gerechte Ordnung der Gesellschaft und des Staates ist zentraler Auftrag der Politik. Politik ist mehr als die Technik der Gestaltung öffentlicher Ordnungen. Gerechtigkeit ist Ursprung, Ziel und inneres Maß der Politik." (vgl. Benedikt XVI., Deus Caritas est, 2006, S. 35 f., 37).
Vor Benedikt XVI. hatte schon Papst Leo XIII. auf veränderte Gesellschaftsstrukturen infolge des Aufschwungs der Industrie hingewiesen: Das Kapital sei in den Händen einer geringen Zahl von Menschen angehäuft, während die große Menge verarmte. Dies rufe einen sozialen Konflikt wach. Dabei bedingen sich Kapital und Arbeit gegenseitig. Es sei die Pflicht der Arbeitsherren, sich den Grundsatz "Jedem das Seine" stets vor Augen zu halten. Dieser Grundsatz sollte unparteiisch auf die Höhe des Lohnes Anwendung finden. Trotz freier Vereinbarung des Lohnes dürfe dieser nicht so niedrig sein, dass er einem genügsamen rechtschaffenden Arbeiter den Lebensunterhalt nicht abwirft (vgl. Leo XIII., Rerum novarum, 1891). Auch Papst Pius XI. vertrat in der Folge die Auffassung, dass Kapital und Arbeit aufeinander angewiesen sind. Der gerechte Lohn sei zusätzlich zur jeweiligen Arbeitsleistung nach dem Lebensbedarf des Arbeiters und seiner Familie, nach der Lebensfähigkeit des Unternehmens und der allgemeinen Wohlfahrt zu bemessen (s. Pius XI., Quadragesimo Anno, 1931).
Zurück zur Lage in Deutschland: Bereits am 17.11.1881 proklamierte Kaiser Wilhelm I. vor dem Deutschen Reichstag in seiner sog. Kaiserlichen Botschaft: Zur Festigung des sozialen Friedens bedarf es der Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterschaft. Dies führte zu einer grundsät...