„Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesonders der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für Alle…“ – dieser schöne, programmatische Satz entstammt nicht einem Flugblatt einer an Utopien ausgerichteten Splittergruppe, sondern steht so seit 1946 in d20r Verfassung des Freistaates Bayern. Allerdings wird heute kaum jemand ernsthaft behaupten, dass dieser Leitsatz die gelebte Praxis in unserer Wirtschaftsrealität widerspiegelt. Dafür müsste man schon sehr viel ausblenden: das ökologisch bedenkliche Ausbeuten der Ressourcen des Planeten Erde, die immer weiter auseinander gehende Schere zwischen Arm und Reich (weltweit, aber mit sozialpolitisch sehr kritischen Folgen auch in Deutschland), die Fehlsteuerungen aus einem globalisierten Kapitalismus, die bereits eingetretenen und noch zu befürchtenden Eingriffe in das Klima durch die menschengemachte Erwärmung der Atmosphäre, um nur einige der offenkundigen Probleme unseres Wirtschaftens zu benennen. Insofern hat der verstorbene Kabarettist Dieter Hildebrandt Recht mit seinem wunderbaren Befund: „Die Verfassung eines Staates ist schon interessant, aber weniger die, die er hat, als die, in der er sich befindet.“
Gemeinwohl-Ökonomie: wie gelingt ethisch verantwortungsvolles Wirtschaften?
Wie könnte nun ethisch verantwortungsvolles Wirtschaften aussehen? Welchen Werten müssten wir uns in unserem Handeln verpflichtet wissen? Wie können wir in unserem Teilhaben am Wirtschaftsleben dem zitierten Leitsatz der Verfassung, den Erkenntnissen der globalen Klimaforschung, den Hinweisen aus der Postwachstumsforschung und unserer Verantwortung für eine nachhaltige Bewahrung der Schöpfung gerechter werden?
Der Ansatz der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ), zuerst vom österreichischen Autor Christian Felber im Jahre 2010 in Buchform formuliert, bietet eine interessante Herangehensweise: Neben die Finanzbilanz, die den finanziellen Erfolg eines Unternehmens misst, tritt die Gemeinwohlbilanz , die den ethischen Erfolg misst. Anhand von vier Werten (Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit sowie Transparenz und Mitbestimmung) wird das reale Wirtschaften eines Unternehmens untersucht und bewertet. Dieses Ergebnis soll künftig z. B. die Besteuerung eines Unternehmens regeln, die Vergabe von öffentlichen Aufträgen bestimmen und für Kundinnen und Kunden einen Kaufanreiz für ethisch produzierte Waren bieten.
Gemeinwohlbericht anhand von vier Werten
Mit der Erstellung eines Gemeinwohlberichts legt ein Unternehmen Rechenschaft darüber ab, welche konkreten Anstrengungen es unternimmt, um die genannten Werte zu fördern und zu schützen – und zwar in allen Bereichen:
- Wie sieht die Menschenwürde in der Zulieferkette aus?
- Wie sind die Arbeitsplätze ausgestaltet?
- Wie groß ist die Einkommensspreizung in einem Unternehmen?
- Welche konkreten Mitgestaltungsmöglichkeiten bietet ein Unternehmen den Mitarbeitenden?
- Welche Anreize bietet das Unternehmen Mitarbeitenden für ihr ökologisch vernünftiges Verhalten z. B. bei Mobilität oder Ernährung?
- Welchen gesellschaftlichen Nutzen bietet ein Unternehmen?
- Welcher Ressourcenverbrauch kennzeichnet das Unternehmen, welche kreativen Ideen zur Verbesserung des ökologischen Fußabdrucks werden umgesetzt?
- Wie sichert das Unternehmen konkret die Gleichberechtigung aller Geschlechter und wie verhindert es Diskriminierung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit oder sexueller Orientierung?
Auf all diese (und viele weitere) Fragen gibt der Gemeinwohlbericht Auskunft. Der Bericht wird dann von ausgebildeten Auditoren (vergleichbar den Wirtschaftsprüfern bei der Finanzbilanz) sorgfältig geprüft und –auch im Vergleich zu anderen bilanzierten Unternehmen – bewertet.
Das Ergebnis ist die Gemeinwohlbilanz; sie wird in einem Punktwert zusammengefasst, der in einer möglichen Spannbreite von minus 3.600 bis plus 1.000 angesiedelt ist. Mittels der Kennzeichnung von Produkten durch eine graphische Übertragung des Punktwertes in eine Gemeinwohl-Ampel können Kunden eine Entscheidungshilfe beim Einkauf erhalten.
Die Gemeinwohl-Ökonomie als alternatives Wirtschaftsmodell
Inzwischen sind über 800 Unternehmen (überwiegend im deutschsprachigen europäischen Raum, aber auch international) nach dem System der Gemeinwohl-Ökonomie bilanziert. Das dadurch entstehende Netzwerk mit seinem Erfahrungsaustausch der bilanzierenden Akteure bereichert auch die Unternehmen – aber es strahlt inzwischen weit über die Sphäre der Unternehmen aus: Auf Kommunen, die kommunale Einrichtungen bilanzieren oder sogar komplett Gemeinwohlkommune werden, auf die Ebene der Wissenschaft mit universitären Lehrstühlen, die das alternative Wirtschaftssystem erforschen, auf die Ebene der Politik (national und international) und auch auf die Ebene der Kirchen und ihrer Sozialverbände.
Die in all diesen Feldern gewonnenen Erfahrungen fließen in die kontinuierliche Weiterentwicklung der Gemeinwohl-Matrix als dem Herzstück der Gemeinwohlbilanz ein. Die Gemeinwohl-Ökonomie versteht sich dabei als konsequente Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft hin zu einem Wirtschaftssystem, das dem eingangs zitierten Leitsatz der bayerischen Verfassung wieder mehr entspricht und den Fehlsteuerungen aus dem auf reine Gewinnmaximierung angelegten Kapitalismus, der auf seine Kollateralschäden keinerlei Rücksicht nimmt, entgegen wirkt.
Der Wert der GWÖ für die Politik
Für Politik ist besonders bedeutsam, wie die reine Orientierung am Bruttosozialprodukt und an der Staatsverschuldung als Maßstab für wirtschaftlichen Erfolg überwunden werden kann. Bereits die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags aus der Legislaturperiode 2009-2013 lieferte mit dem Schlussbericht zum Projekt „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ hier wertvolle Hinweise: Erst wenn in der Bilanz eines Landes neben den Finanzkriterien „Verschuldung“ und „Bruttosozialprodukt“ soziale und ökologische Kriterien gemessen und bewertet werden (wie z. B. die Entwicklung der Artenvielfalt, das Maß an Schadstoff-Ausstoß, die Entwicklung der gesunden Lebenserwartung, Bildungsindices, Entwicklung der Einkommensverteilung etc.), wird deutlich, ob sich eine Volkswirtschaft gut oder besorgniserregend entwickelt. Dadurch werden Politikziele nachhaltig und miteinander verzahnt: Die Umsteuerung zu regenerativen Energieträgern (so zögerlich und langsam das auch immer verlaufen mag) ist ein Beispiel für diesen Prozess – in anderen Politikfeldern wie z. B. der Landwirtschaft, der Verkehrspolitik oder der Steuerpolitik stehen die erforderlichen Umdenkprozesse noch weitgehend aus.
Fazit: Gemeinwohl-Ökonomie rückt Nachhaltigkeit und Ethik in den Vordergrund
Die Gemeinwohl-Ökonomie zeigt: Wirtschaften geht auch vernünftig, nachhaltig und ethisch verantwortbar. Alles, was den vier Werten der GWÖ in der Art des Zusammenlebens von Menschen und Nationen und ihrer Ausgestaltung durch Politik widerspricht, ist durch Menschen veränderbar. Alle Unternehmen und gesellschaftlichen Akteure, die sich in dem skizzierten Sinn auf den Weg machen wollen, können alle erforderlichen Informationen auf der Website www.ecogood.org finden, Netzwerkpartner aus den Regionen oder spannende neue Veröffentlichungen entdecken – und auf diese Weise Teil der Bewegung werden, die für das gute Leben für Alle eintritt.