Nächstes Jahr wird das Grundgesetz siebzig Jahre alt. Keine deutsche Verfassung zuvor war so lange in Kraft. Man sollte meinen, ihre Grundsätze seien uns längst zu politischen und gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten geworden. Doch die Realität sieht anders aus. Hier nur einige wenige Beispiele aus den letzten Monaten.
Eine Ausländerbehörde führt eine Abschiebung durch und ignoriert dabei wissentlich eine aufschiebende Gerichtsentscheidung. Der zuständige Innenminister drückt sein Bedauern aus, empfiehlt jedoch der Justiz, sich in Asylfragen am "Rechtsempfinden der Bevölkerung" zu orientieren. Der Vorsitzende einer Regierungspartei spricht von einer "Herrschaft des Unrechts" in Deutschland, meint sich aber rätselhafter Weise nicht selbst damit. Als später der Mob durch die Straßen von Chemnitz zieht, sagt er, er hätte mitdemonstriert, wenn er nicht Bundesinnenminister wäre.
Ein Mann mit Deutschlandhütchen, wie sich später herausstellt ein LKA-Mitarbeiter, fühlt sich bei einer Demonstration von einem Kamerateam belästigt. Die Polizisten, an die er sich wendet, informieren ihn nicht etwa über das Grundrecht der Pressefreiheit, sondern hindern das Kamerateam eine Dreiviertelstunde lang, seiner Arbeit nachzugehen. Noch bevor der Sachverhalt aufgeklärt ist, weiß der zuständige Ministerpräsident schon, allein die Polizei habe in dieser Situation "seriös" agiert.
Der ehemalige Chef der Bundesbank und Verfasser diverser Bücher prophezeit der Bundesrepublik Deutschland nach einer Koranlektüre die baldige "Feindliche Übernahme" durch "den Islam". Jeder darf, sofern er damit nicht gegen geltendes Recht verstößt, veröffentlichen, was er will. Das gilt selbstverständlich auch für diesen Autor. Das Buch aber als Plädoyer für die Religionsfreiheit zu lesen, dürfte schwerfallen. Sofort nach dem Erscheinen stürmte es auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste. Im Frühjahr dieses Jahres erschien auch das Buch "Staat ohne Gott", eine glänzend fundierte Streitschrift für die Religionsfreiheit des Staatsrechtslehrers Horst Dreier. Sie bekam hervorragende Kritiken, doch ein ähnlicher Erfolg beim Publikum blieb ihr verwehrt.
Mehr Anklang bei den Lesern findet ein "Plädoyer für einen neuen (sic!) Schutzwall". Neben einer militärisch bewachten Wehrmauer mit Stacheldraht an allen Grenzen Deutschlands empfiehlt es die Errichtung von Internierungslagern für Flüchtlinge. Es ist nicht irgendwer, der das fordert. Der Autor ist Professor an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung im Fachbereich Nachrichtendienste.
Vor wenigen Wochen erging das Urteil erster Instanz im NSU-Prozess. Der ehemalige Präsident des Landesamts für Verfassungsschutz in Thüringen, dessen Behörde über zehn Jahre nichts Wesentliches zur Aufklärung des Falls beitragen konnte, publiziert seit seiner Entlassung Verschwörungstheoretisches in neurechten Organen.
Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Alle hier erwähnten Personen waren oder sind Amtsträger und haben Eide auf die Verfassung abgelegt. Doch was sie von sich geben, steht nicht selten in krassem Widerspruch zu deren Inhalt. Das bleibt natürlich nicht unkommentiert, in manchen Fällen folgt harsche mediale Kritik. So verlässlich derartige Statements abgegeben werden, so verlässlich werden sie auch, falls unumgänglich, dementiert. Das Dementi aber verhallt schnell. Was in Erinnerung bleibt, ist das wirklich Gemeinte. Das wissen auch die Urheber, von denen sich nicht wenige deshalb lieber auf angeblich "jüdisch-christliche Werte" und "abendländische Traditionen" berufen, denn auf das Grundgesetz.
Es ist kein Alarmismus, wenn man eine breite gesellschaftliche Abkehr vom liberalen Menschenbild unserer Verfassung attestiert.
Jeder Rechtsanwalt weiß, wie schwierig es mitunter sein kann, Rechtssuchende mit rechtsstaatlichen Grundlagen bekannt zu machen. Das beginnt bei vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, die keine mehr sind, oder vielleicht auch noch nie welche waren. Eines von unzähligen Beispielen: Was unterscheidet eine Behauptung von einer Tatsache? Was ist ein Beweis und was nicht? "Fake-News" gibt es nicht erst, seit dieser Begriff in Mode gekommen ist. Unsere Prozessordnungen enthalten feingliedrige, ausdifferenzierte Systeme, die zu nichts anderem dienen, als das Wahre vom Unwahren zu unterscheiden, soweit es Menschen möglich ist.
Dennoch, am Ende eines Verfahrens bleiben oft sämtliche Beteiligte unzufrieden zurück. Das liegt zum Teil daran, dass die Forderungen, die wir an den Rechtsstaat richten, auf Unmögliches zielen. Der Zeitungsleser kann mit einem Blick erkennen, ob ein Urteil richtig ist oder nicht. Ein Richter tut sich da schwerer.
Jüngstes Beispiel: Das Urteil im "Kandel"-Prozess erscheint vielen als "zu milde". Der Täter wurde nach Jugendstrafrecht zu achteinhalb Jahren verurteilt. Es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass er zur Tatzeit minderjährig war. Die Maximalstrafe hätte somit zehn Jahre betragen. Angesichts der schrecklichen Tat wäre auch das etlichen nicht als angeme...