2017 habe ich den syrischen Flüchtling Anas Modamani gegen Facebook vor Gericht vertreten, damit der US-Konzern endlich bei seinen Löschungsentscheidungen deutsches Recht anwendet und verleumderische Memes löscht. Da der US-Konzern mit der Mission, die Welt zu verbinden, erklärte, auf solche nationalen Befindlichkeiten nicht eingehen zu wollen und es vorzog, wie es eine Boulevard Zeitung betitelte, "Nippel statt Nazis" zu löschen, entstand das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG v. 1.9.2017, BGBl I, S. 3352, Nr. 61; zuletzt geändert durch Art. 1 G. v. 3.6.2021, BGBl I, S. 1436). Das Regulierungsziel des NetzDG war bisher immer, dass die sozialen Netzwerke angehalten werden, nach deutschem Recht illegale Inhalte wie "Volksverhetzung" oder "Verleumdungen" zu entfernen. Kritiker, die nicht nur aus dem rechten Lager stammten, mahnten an, dass neben der Menschenwürde auch die Meinungsfreiheit in Gefahr stünde, wenn man dem Privatunternehmen völlig freie Hand darüber ließe, unerwünschte Inhalte zu löschen oder störende Accounts zu entfernen.
Vor diesem Hintergrund stellte sich die Frage, ob hier ein virtuelles Hausrecht und Vertragsfreiheit besteht, sodass auch grundrechtlich geschützte Meinungen entfernt werden dürfen? Muss ein Plattformbetreiber alles stehen lassen, was nicht ausdrücklich strafbar ist oder darf er zudem jede unfeine Vokabel, unabhängig von deren Kontext, mit Löschung und Sperrung belegen? Instanzgerichte waren in ihrer Rechtsprechung naturgemäß uneinheitlich. Wo Menschen kritisiert wurden, waren die Grenzen der Meinungsfreiheit etwas enger, bei politischer Polemik ohne Personenbezug dagegen erstaunlich weit.
Für die Idee, neben materiellem Recht auch Verfahrensregeln zu überprüfen, brauchte es aber den BGH, der jetzt die "Spielregeln" dafür festlegte. Der BGH hat mit Urt. v. 29.7.2021 (Az. III ZR 179/20 und III ZR 192/20, s. ZAP EN-Nr. 534/2021 [in dieser Ausgabe]) entschieden, dass Facebook sehr wohl auch nicht strafbare Inhalte nach eigenen AGB entfernen kann. Voraussetzung dafür sei es jedoch, dass die Gemeinschaftsbedingungen ein faires Verfahren zur Beteiligung des betroffenen Users vorsehen: Der User müsse die Möglichkeit haben, zu dem mit Begründung versehenen Hinweis des Plattformbetreibers Stellung zu nehmen und eine Neubescheidung zu verlangen. Bei Sperrungen müsse die Anhörung vorab erfolgen.
Der BGH bemühte die mittelbare Drittwirkung von Grundrechten, die gem. § 307 BGB dazu führte, dass die bisherigen Geschäftsbedingungen von Facebook schlicht unwirksam sind. Daraus folgte der überraschende Tenor, dass die zunächst entfernten flüchtlingsfeindlichen Beiträge wieder online gestellt werden müssen, nach erfolgter Korrektur der AGB jedoch wieder gelöscht werden können.
Der BGH hat sich also für ein virtuelles Hausrecht mit formalen Bedingungen entschieden – ein nachvollziehbarer Kompromiss. Plattformen dürfen unflätige Inhalte verbieten, wenn sie dafür Geschäftsbedingungen aufstellen, die sicherlich künftig anstehende Inhaltskontrollen bestehen. Geklärt wurde auch, dass bei Löschung von Beiträgen und Sperrungen ein Unterlassungsantrag neben dem Anspruch auf Wiederherstellung zulässig ist. Dieser Unterlassungsanspruch lässt sich auch im einstweiligen Verfügungsverfahren einfach realisieren, während der Anspruch auf Wiederherstellung allein als Leistungsverfügung im Verfügungsverfahren an den hohen Anforderungen an die besondere Dringlichkeit häufig scheitert.
Der BGH nimmt mit dem Verfahren eine Regelung voraus, die in § 3b) NetzDG ab dem 1.10.2021 vorgesehen ist, nämlich das Gegenvorstellungsverfahren gegen Löschungsentscheidungen. Der BGH dehnt die Userbeteiligung jetzt auch für Fälle außerhalb des NetzDG aus, in denen sich der Gesetzgeber nicht zu einer wirksamen Regulierung durchringen konnte. Bei Einführung des NetzDG im Jahr 2017 hatten Politiker und Branchenverbände vereinzelt davor gewarnt, dass durch die Beachtung der rechtlichen Vorschriften immense Kosten auf die Plattformbetreiber zukommen könnten, die deren Gewinne schmälern dürften.
Ja, Prüfungsverfahren mit Userbeteiligung sind aufwendig und voraussichtlich auch fehleranfällig. Es versteht sich von selbst, dass die Balance zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten den Aufwand wert ist.
Für die Anwaltschaft schafft die neue Rechtsprechung neue Betätigungsmöglichkeiten. Löschungs- und Sperrungsentscheidungen der Plattformbetreiber lassen sich jetzt schon auf formaler Ebene dahingehend überprüfen, ob sie auf wirksamen Geschäftsbedingungen basierten und, ob die dortigen Mechanismen eingehalten wurden. Derzeit steht das Tor ohne Torwart offen: Die derzeitigen Gemeinschaftsstandards bei Facebook sind laut BGH unwirksam.
ZAP F., S. 939–940
Rechtsanwalt Chan-jo Jun, Fachanwalt für IT-Recht, Würzburg