aa) Vorlagepflicht
Zur Vorlage verpflichtet ist jedenfalls das letztinstanzliche Gericht (Art. 267 Abs. 3 AEUV). Entscheidend ist zur Beurteilung insofern darauf abzuheben ist, dass gegen die Entscheidung im konkreten Fall kein Rechtsmittel mehr zulässig ist (BVerfG, Beschl. v. 13.6.1997 – 1 BvR 2102/95, NJW 1997, 2512).
Ein Verstoß gegen die Vorlagepflicht kann einen Entzug des gesetzlichen Richters darstellen (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) und mittels der Verfassungsbeschwerde gerügt werden. Eine Verletzung der Vorlagepflicht ist bei willkürlichem Handeln, wenn dieses bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist, – zu bejahen, so, wenn ein letztinstanzliches Gericht
- eine Vorlage trotz der seiner Auffassung nach bestehenden Entscheidungserheblichkeit einer Frage des Gemeinschaftsrechts überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst an der Richtigkeit seiner Antwort zweifelt (BVerfG, Beschl. v. 25.2.2010 – 1 BvR 230/09, NZA 2010, 439),
- die maßgebliche Rechtsfrage in der Rechtsprechung des EuGH als geklärt ansieht, obwohl diese Auffassung in der von ihm herangezogenen Rechtsprechung des EuGH keine Stütze findet (BVerfG; Beschl. v. 24.10.2011 – 1 BvR 1103/11, NZA 2012, 202) oder es
- bewusst von der Rechtsprechung des EuGH zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht, ohne vorzulegen und
- eine Frage des Gemeinschaftsrechts noch nicht eindeutig geklärt ist und das Gericht den ihm bei der Frage der Vorlage zukommenden Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise gehandhabt hat (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2017 – 2 BvR 424/17, AnwBl 2018, 171 m.w.N).
Bei willkürlicher Nichtvorlage oder auch dann, wenn das innerstaatliche Gericht nicht (ausführlich) begründet hat, warum es wegen einer der oben genannten Gründe von einer Vorlage abgesehen hat, kann ein individueller Schadensersatzanspruch – geltend zu machen innerstaatlich durch Staatshaftungsklage im Falle judiziellen Unrechts (s. Oppermann//Classen/Nettesheim, a.a.O., § 14, Rn 11 ff.) – gegen den Mitgliedsstaat bestehen, wenn die Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts gegen Art. 267 AEUV verstoßen hat (so EuGH, Urt. v. 6.10.2021 – C-561/19, NJW 2021, 3303, hierzu Hilpold, NJW 2021, 3290).
Wenn willkürlich die Vorlagepflicht verletzt wird, sollte ggf. „zweigleisig” verfahren werden: Einmal ist zur Fristwahrung Verfassungsbeschwerde einzulegen und gleichzeitig ist zu versuchen, z.B. mittels der Nichtzulassungsbeschwerde eine Zulassung der Berufung (§ 145 SGG) bzw. der Revision (§ 544 ZPO, § 72a ArbGG, § 160a SGG) zu erreichen. Besteht lediglich eine Vorlageberechtigung nach Art. 267 Abs. 2 AEUV, scheidet die Annahme von willkürlichem Verhalten aus, da dieses einen Verstoß gegen Handlungspflichten voraussetzt, die hier gerade nicht gegeben sind.
Unter Umständen kommt bei Verletzung der Vorlagepflicht eine Individualbeschwerde an den EGMR (hierzu unten II.) in Betracht, etwa wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) (vgl. Latzel/Streinz, a.a.O., 99 m.w.N. in Fn 49).
Das BVerfG hat durch Beschluss v. 4.10.2011 – 1 BvL 3/08, bestätigt durch BVerfG, Beschl. v. 10.12.2014 – 2 BvR 1549/07, NZA 2015, 375 die Vorlagepflicht auch der Instanzgerichte an den EuGH erweitert. Eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG an das BVerfG ist hiernach unzulässig, wenn das vorlegende Gericht nicht vorab geklärt hat, ob das von ihm als verfassungswidrig beurteilte Gesetz, das Recht der EU umsetzt, und aufgrund eines dem nationalen Gesetzgeber durch das Unionsrecht eingeräumten Gestaltungsspielraums transferiert wurde. Ggf. hat das vorlegende Gericht zur Klärung dieser Frage zunächst auch dann ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 Abs. 1 AEUV einzuleiten, wenn es nicht ein letztinstanzliches Gericht ist.
Im Übrigen ist auch im nationalen gerichtlichen Eilverfahren der Umstand, dass voraussichtlich im Hauptverfahren eine Vorlage an den EuGH zu erfolgen hat, bedeutsam: Nur wenn dieser Aspekt in die Abwägung des Interesses der Antragsteller einbezogen wird – insb. die Erforderlichkeit einer über die summarische Prüfung hinausgehenden Interessenabwägung bei ungeklärten Fragen des EU-Rechts, die im Hauptsacheverfahren eine EuGH-Vorlage nahelegen –, kann eine Ablehnung des Eilantrages vor Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG (Anspruch auf effektiven Rechtsschutz) Bestand haben (BVerfG, Beschl. v. 17.1.2017 – 2 BvR 2013/16).
bb) Berechtigung zur Vorlage
Soweit keine Vorlagepflicht besteht (sondern lediglich eine Berechtigung hierzu), ist es Sache der Prozessbevollmächtigten, ggf. das Gericht von der Erforderlichkeit oder Zweckmäßigkeit einer Vorlage zu überzeugen.
Hinweis:
Beispiele für entsprechende Anträge finden sich im Beck'schen Prozessformularbuch, 15. Aufl. 2022, II. P. 12 und IX. 1, mit jeweils zahlreichen Hinweisen. Eine Verpflichtung der Gerichte, solche Anregungen förmlich zu bescheiden, besteht allerdings nicht.