Das deutsche Arbeitszeitrecht ist seit mehr als 80 Jahren gekennzeichnet durch Normierungen der täglichen Höchstarbeitszeit (vgl. §§ 3, 7 Abs. 1 Nr. 1a und b ArbZG). Durch Untersuchungen ist bestätigt, dass das Unfallrisiko nach sechs bis sieben Stunden, v.a. aber nach acht Stunden exponentiell ansteigt. Arbeitszeiten von mehr als acht Stunden am Tag sind nicht nur ein Unfallrisiko. Sie erhöhen auch deutlich den gesundheitlichen Verschleiß der Beschäftigten und das Eintreten vorzeitiger Erwerbsminderung und Erwerbsunfähigkeit (vgl. Kohte, Ausschussdrucks 19(11)83 v. 21.6.2018, S. 6).
Die Arbeitszeit-RL kennt – anders als § 3 ArbZG – keine tägliche Höchstarbeitszeit, sondern schreibt lediglich eine wöchentliche Höchstarbeitszeit fest, die zudem sehr flexibel ausgestaltet ist. Nach Art. 6 RL 2003/88/EG dürfen pro Siebentageszeitraum 48 Stunden Arbeitszeit nicht überschritten werden. Zudem lassen sich die Bezugszeiträume nach Art. 16, 22 RL 2003/88/EG noch deutlich ausweiten (vgl. Giesen, Ausschussdrucks 19(11)83 v. 21.6.2018, S. 59), was zu deutlich erhöhter Arbeitszeitflexibilität und gesteigerter Wettbewerbsfähigkeit führt.
Bereits das Weißbuch des BMAS zum Dialogprozess „Arbeiten 4.0” aus dem Jahr 2016 enthielt Überlegungen zu Möglichkeiten der Abweichung von der Tageshöchstarbeitszeit in Kombination mit der Öffnung der Ruhezeit zur Flexibilisierung der Arbeitszeit (vgl. Bauer/Roll, NZA 2021, 1685 m.w.N.; vgl. https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/a883-weissbuch.pdf?__blob=publicationFile&v=2 ). Betont wurde aber:
Zitat
„Der bestehende gesetzliche Rahmen ermöglicht bereits ein hohes Maß an Flexibilität. Sofern sich darüber hinaus mehr Gestaltungsspielräume, z.B. hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeiten und Ruhezeiten, als notwendig erweisen sollten, wäre die Eröffnung solcher Gestaltungsspielräume für das BMAS nur auf dem Wege ausgehandelter Flexibilitätskompromisse denkbar. Diese Kompromisse müssten bestimmte Bedingungen erfüllen. Sie müssten passgenaue Lösungen ermöglichen, ohne die Zeitsouveränität und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer zu beeinträchtigen. Eine allgemeine Öffnung des Arbeitszeitgesetzes wie eine Abkehr von der Norm des Achtstundentags zugunsten nur noch einer Wochenhöchstarbeitszeit ist aus Sicht des BMAS mit den Zielen des Arbeitsschutzes und der Zeitsouveränität nicht vereinbar.”
Der Achtstundentag als maßgebliche Errungenschaft der Gewerkschaften ist ein politisch und arbeitsmarktpolitisch stark besetztes Thema, auch ein unerwünschter Machtverlust der Gewerkschaften ggü. den Betriebsparteien dämpft Reformbestrebungen im Bereich der Arbeitszeit. Mit Blick auf den Referentenentwurf zum ArbZG v. 18.4.2023 stellt sich die Frage, was vom Koalitionsvertrag v. 24.11.2021 und seinem Titel „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit” bleibt, wenn man die aktuellen Reformansätze, insb. den ArbZG-E bewertet. Der vorgenannte Koalitionsvertrag formuliert in Bezug auf die Flexibilisierung der arbeitszeitrechtlichen Vorgaben wie folgt:
Zitat
„Um auf die Veränderungen in der Arbeitswelt zu reagieren und die Wünsche von Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmern und Unternehmen nach einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung aufzugreifen, wollen wir Gewerkschaften und Arbeitgeber dabei unterstützen, flexible Arbeitszeitmodelle zu ermöglichen. Wir halten am Grundsatz des 8-Stunden-Tages im Arbeitszeitgesetz fest. Im Rahmen einer im Jahre 2022 zu treffenden, befristeten Regelung mit Evaluationsklausel werden wir es ermöglichen, dass im Rahmen von Tarifverträgen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen und in einzuhaltenden Fristen ihre Arbeitszeit flexibler gestalten können. Außerdem wollen wir eine begrenzte Möglichkeit zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit schaffen, wenn Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen, aufgrund von Tarifverträgen, dies vorsehen (Experimentierräume). Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z.B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.”
Hinter einer mutigen Reform (= „mehr Fortschritt wagen”) unter Nutzung der Spielräume des europäischen Arbeitszeitrechts, der es angesichts des von den Regierungsparteien selbst formulierten Gestaltungsanspruchs einer modernen Arbeitswelt bedürfte, bleiben die derzeitigen („Reform”-)Ansätze weit zurück. Mit den beabsichtigen Änderungen sind echte Flexibilisierungen der Arbeitszeit über das bisher bereits bestehende Maß, die nicht zuletzt auch der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf dienen und nicht nur von den Unternehmen, sondern auch von vielen Beschäftigten gewünscht werden, nicht verbunden (vgl. Grau/Kruppa, RdA 2022, 73, 74 f.).
Grau/Kruppa äußern mit Blick auf die Praxis zutreffend Kritik, dass der Koalitionsvertrag –...