Den Arbeitgeber trifft die Pflicht, ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit eines Arbeitnehmers einzurichten. Das folgt laut EuGH aus den RL 2003/88/EG und 89/391/EWG sowie aus Art. 31 Abs. 2 GRCh (zur Konnexität von Art. 31 Abs. 2 GRCh und der Arbeitszeit-RL Bayreuther, RdA 2022, 290, 291). Der EuGH vertritt die Auffassung, nur so könne die praktische Wirksamkeit dieser Arbeitnehmerschutzvorschriften gewährleistet werden (krit. Höpfner/Daum, RdA 2019, 270). Ohne ein System zur Messung der täglichen Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers könne weder die Zahl der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden und ihre zeitliche Verteilung noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden, sodass es für Arbeitnehmer äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich sei, ihre Rechte durchzusetzen (vgl. Bauer/Roll, NZA 2021, 1685, 1686; zur Auswirkung des EuGH-Urteils auf das deutsche Arbeitszeitrecht vgl. DGB-Eckpunktepapier v. 10.03.2021 ( https://www.dgb.de/themen/++co++cce90722-6470-11ea-a656-52540088cada ). Der Arbeitnehmer sei als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen, sodass verhindert werden müsse, dass der Arbeitgeber ihm eine Beschränkung seiner Rechte auferlegen könne. Ein Arbeitnehmer könne aufgrund dieser schwächeren Position davon abgeschreckt werden, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber ausdrücklich geltend zu machen, da insb. die Einforderung dieser Rechte ihn Maßnahmen des Arbeitgebers aussetzen könne, die sich zu seinem Nachteil auf das Arbeitsverhältnis auswirken könnten (vgl. EuGH, Urt. v. 14.5.2019 – C-55/18, a.a.O., Rn 44 f. „CCOO” m.w.N.; krit. Höpfner/Daum, RdA 2019, 270, 273 unter Hinweis auf ein „fehlerhaftes Arbeitnehmerbild” und gesetzliche Maßregelungsverbote).
Dem EuGH zufolge müssen die Bestimmungen der Arbeitszeit-RL – namentlich die Art. 3, 5 und 6 RL 2003/88/EG – im Licht von Art. 31 Abs. 2 GRCh ausgelegt werden, Höchstarbeits- und Ruhezeiten sind ein bedeutendes Grundrecht der Arbeitnehmer. Ohne ein System zur Arbeitszeiterfassung drohe die Gefahr, dass die Arbeitszeit nicht verlässlich und objektiv ermittelt werde und die Arbeitnehmer ihre (Grund-)Rechte nicht durchsetzen könnten (Benkert, NJW-Spezial 2023, 50). Diese EuGH-Rechtsprechung fußt auf der Abgrenzung zwischen vergütungspflichtiger Arbeitszeit und Freizeit, die der Erholung des Arbeitnehmers dient (vgl. Greiner, EuZA 2023, 123, 126). „Arbeitszeit” (Art. 6 RL 2003/88 EG) und „Ruhezeit” (Art. 3, Art. 5 RL 2003/88 EG) sind grundlegende autonome unionsrechtliche Begriffe (vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2021 – C-214/20, NZA 2021, 1699 „Dublin City Council”), die für das deutsche Recht und die deutschen Gerichte bindend sind, wobei ein weiterreichender Schutz nach Art. 15 RL 2003/88 EG unberührt bleibt (vgl. Bayreuther, RdA 2022, 290; krit. zur arbeitsschutzrechtlichen Pflicht zur Bezahlung von Umkleidezeit bei der Verwendung von Schutzausrüstungen Gaul/Hofelich, NZA 2016, 149).
Dabei weichen Rechtsverständnis und -lage in Bezug auf die Regulierung der Arbeitszeit des EuGH/des Unionsrechts einerseits und des BAG/des ArbZG andererseits voneinander ab. Während der EuGH den Begriff der Arbeitszeit auf Grundlage der vorgenannten RL 2003/88 EG eng versteht (EuGH, Urt. v. 2.3.2023 – C-477/21, NZA 2023, 1561; vgl. Greiner, EuZA 2023, 123; Eylert/Meyer, NZA 2022, 225), aber die Ausgestaltung der Arbeitszeit flexibel handhabt, bestehen im deutschen Recht – sofern noch europarechtskonform – Spielräume bei der Auslegung des Begriffs der Arbeitszeit, wobei die Flexibilisierungsmöglichkeiten auf der Grundlage des ArbZG deutlich hinter den (Flexibilisierungs-)Möglichkeiten und Spielräumen der RL 2003/88 EG zurückbleiben. So ist das deutsche Arbeitszeitrecht mit der Festlegung einer täglichen Höchstarbeitszeit deutlich strenger als die RL 2003/88 EG, die lediglich von einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden ausgeht und dabei vielfältige Ausnahmemöglichkeiten enthält (vgl. Giesen, Ausschussdrucks 19(11)83 v. 21.6.2018, S. 60).
Auf der Grundlage des Unionsrechts steht den Mitgliedsstaaten bei der Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung ein großer Regelungsspielraum zu und es bleibt ihnen überlassen, den jeweiligen Erfassungsmechanismus ggf. unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs oder der Eigenheiten bestimmter Unternehmen festzulegen. Die Arbeitszeit-RL ihrerseits enthält keine Ausführungen zur Erfassungspflicht des Arbeitgebers. Damit lassen sich dem Unionsrecht keine hinreichend genauen Vorgaben für die Ausgestaltung der Zeiterfassung entnehmen, die gleichsam im Verhältnis 1:1 das nationale Recht gestalten (vgl. Bayreuther, RdA 2022, 290, 292).
Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, wenn in der Literatur darauf hingewiesen wird, indem der EuGH unter Verweis auf den effet utile den vom Unionsgeber den Mitgliedsstaaten zugewiesenen Ausgestaltungsauftrag an sich ziehe, missachte er die Zuständigkeitsver...