Zugleich ein Kommentar zur Entscheidung des BGH, Urt. v. 22.6.2020 – AnwZ (Brfg) 48/19 (s. dazu auch Anwaltsmagazin ZAP 2020, S. 784 ff. sowie ZAP EN-Nr. 456/2020 [LS] F. 1 S. 129):
Eines sei zunächst direkt vorweggeschickt: Ich bin seit dem Jahre 2002 Speditionskaufmann, habe fast acht Jahre in einer mittelständischen Spedition gearbeitet, bin seit 2007 als Rechtsanwalt tätig und führe seit 2010 die Bezeichnung „Fachanwalt für Transport- und Speditionsrecht”. Die Gefahr, hier als Verteidiger einer möglichst geschlossenen Gesellschaft in Erscheinung zu treten, indem ich als Inhaber der Fachanwaltschaft das Urteil des BGH verteidige, ist mir bewusst. Ich halte es gleichwohl im Ergebnis für richtig.
Dies ist u.a. bedingt durch die alltägliche Arbeit in unserer Sozietät. Ich habe verschiedene Kolleginnen und Kollegen, welche sich ebenso wie die Klägerin im vom BGH zu entscheidenden Fall regelmäßig mit Fragestellungen aus dem Bereich der EG VO 261/2004 („Fluggastrechte-VO”) befassen. Wir unterscheiden in der täglichen Arbeit jedoch zwischen den Bereichen „Fracht” und „Passagiere”. Schnittmengen gibt es in der Rechtsanwendung hier nämlich kaum. Mandanten- wie Gegnerstruktur sind recht unterschiedlich. Selbst wenn theoretisch dasselbe Recht im Ausgangspunkt zur Anwendung kommt – das Warschauer Abkommen von 1955 und das Montrealer Übereinkommen von 1999 enthalten sowohl Regelungen für die Beförderung von Gütern als auch für die von Reisenden –, ist die konkrete Rechtsanwendung zumeist vollkommen unterschiedlich. Beispielhaft erwähnt sei nur, dass es für den Reisenden andere bzw. mehr Gerichtsstände gibt als in Frachtstreitigkeiten, und auch, dass die Haftung für Güterschäden eine andere ist als die für Schäden am Reisegepäck. Auch die Zuständigkeiten auf der BGH-Ebene sind verschieden. Der I. Zivilsenat kümmert sich um das Speditions-, Lager- und Frachtrecht, der X. Zivilsenat um das Reisevertragsrecht, wobei zu Letzterem auch Ausgleichsansprüche nach der EG VO 261/2004 zählen.
Gemeinsam ist beiden Bereichen lediglich, dass die Rechtsprechung grds. eher dazu tendiert, zugunsten des jeweiligen Geschädigten zu entscheiden. Selbst dies ist jedoch auf unterschiedliche Erwägungen zurückzuführen: Zum einen auf den Gedanken des Verbraucherschutzes, zum anderen auf einen generell schlechten Ruf, den Spediteure und Frachtführer hierzulande nach hiesiger Auffassung zu Unrecht genießen. Man braucht in beiden Bereichen daher ein dickes Fell, wenn man auf Beklagtenseite tätig ist.
Ich kann aber auch nachvollziehen, warum die Klägerin den Versuch gemacht hat, mithilfe von Fällen aus dem Bereich der Fluggastrechte den Titel einer Fachanwältin für Transport- und Speditionsrecht zu erhalten.
Die insgesamt relativ junge Fachanwaltschaft Transport- und Speditionsrecht gehört aktuell zu den vier kleinsten Fachanwaltschaften (Migrationsrecht: 154; Agrarrecht: 178; Internationales Wirtschaftsrecht: 207; Transport- und Speditionsrecht: 212 – Quelle: BRAK-Mitteilungen 3/2020, S. 128). Da die Fachanwaltschaft für Agrarrecht seit 2010 und diejenige für Internationales Wirtschaftsrecht seit 2015 und die für Migrationsrecht seit 2016 existiert, ist davon auszugehen, dass diese in den kommenden Jahren das Transport- und Speditionsrecht noch überholen werden. Die Anwaltsakademie bietet aktuell zwei Fachanwaltslehrgänge für das Internationale Wirtschaftsrecht an und plant je einen weiteren Fachanwaltslehrgang für Agrarrecht und Migrationsrecht für das Jahr 2021. Für das Transport- und Speditionsrecht gibt es dort noch nicht einmal eine Planung für einen weiteren Fachanwaltslehrgang.
Man darf daher feststellen, dass es sich bei dieser Fachanwaltschaft um einen sehr kleinen, stark abgeschotteten Bereich handelt, zu welchem Außenstehende nur recht schwer Zugang finden. Dementsprechend rar sind auch die Fälle.
Die Anforderung von 80 Fällen, davon mindestens 20 gerichtliche Verfahren oder Schiedsverfahren (vgl. § 5 Abs. 1 lit. n FAO) liegt zwar im Durchschnitt, wenn man einmal auf die anderen Fachanwaltschaften schaut (zwischen 40 Fällen im Vergaberecht und 160 Fällen im Verkehrsrecht). Gleichwohl hört man immer wieder von Problemen, das nötige Quorum zu erreichen.
Die sich aus der Fachanwaltsordnung ergebenden Anforderungen decken meiner Meinung nach zwar ein recht großes Spektrum von Fällen ab – nationaler und grenzüberschreitender Straßentransport, Transport zu Wasser, auf der Schiene und in der Luft, multimodaler Transport, Gefahrgut, Transportversicherungsrecht, Lagerrecht, IPR, Zollrecht sowie Verkehrssteuern. Dies ändert jedoch nichts daran, dass es Einzelkämpfern vermutlich schwerfällt, an die entsprechenden Mandanten und damit an die notwendigen Fälle zu kommen.
Fälle mit Bezug zur Fluggastrechte-VO dürften deutlich leichter zu erhalten sein. Einer meiner Kollegen berichtete einmal von einer Schulklasse, deren Abschlussfahrt („vor Corona”) mit dem Flugzeug gehen sollte. Der Flug fiel aus, und die Mutter eines der betroffenen Schüler, eine Rechtsanwä...