Die vorstehend anhand von Beispielen aus der Rechtsprechung aufgezeigte Anwendung der Grundsätze der öffentlich-rechtlichen Verkehrssicherungspflicht und der privaten Verkehrssicherungspflicht ist auch nebeneinander möglich, nämlich wenn beiden Sicherungspflichtigen eine schuldhafte Pflichtverletzung vorzuwerfen ist. Als Beispiel dafür sei auf den folgenden Fall hingewiesen:
Beispiel:
(nach BGH, Urt. v. 18.11.1993 – III ZR 178/92, VersR 1994, 618)
Ein Pkw wurde auf einem unbeschrankten Bahnübergang von einer Lokomotive erfasst; die Fahrerin verstarb noch an der Unfallstelle. Der Übergang war mit einer beidseitigen Warnblinkanlage sowie einem akustischen Signal ausgestattet. Die Anlagen funktionierten störungsfrei. Allerdings hatte ein Kraftfahrer erst 10 m vor dem Bahnkörper freie Sicht auf die Warnblinkanlage, weil sie durch die in den Straßenraum ragenden Zweige einer am linken Straßenrand stehenden Rotbuche und durch Buschwerk auf der rechten Straßenseite verdeckt war. Der Sohn der Fahrzeugführerin verlangte von der für die Bahnanlage unterhaltungspflichtigen Eisenbahngesellschaft und von der für die Straße verkehrssicherungspflichtigen Gemeinde Schadensersatz. Das Verlangen war zum Teil erfolgreich.
Der BGH hat eine schuldhafte Pflichtverletzung der Eisenbahngesellschaft angenommen. Zwar habe sie nicht die Äste und das Buschwerk entfernen müssen, damit eine freie Sicht auf die Warnblinkanlage möglich gewesen wäre. Denn die Gehölze hätten nicht auf dem zur Bahn gehörenden Gelände, sondern auf dem Straßenland gestanden. Die Bahngesellschaft habe jedoch im Rahmen der sie treffenden Verkehrssicherungspflicht regelmäßig den Zustand des Bahnübergangs kontrollieren müssen. Dabei wären die Sichtbehinderungen durch Äste und Buschwerk festgestellt worden. Als Folge davon hätte die Eisenbahngesellschaft bei der verkehrssicherungspflichtigen Gemeinde auf die Beseitigung der Sichtbehinderungen hinwirken müssen.
Auch der Gemeinde hat der BGH eine schuldhafte Verletzung der ihr obliegenden Verkehrssicherungspflicht attestiert. Diese beziehe sich nämlich nicht nur auf den Zustand der Fahrbahn, sondern auch darauf, dass der Verkehr sich auf ihr gefahrlos abwickeln könne. Dabei entscheide die Verkehrsauffassung darüber, ob eine Gefahr noch von der Straße oder von der Umgebung ausgehe. Von der Straße drohe sie, wenn ursprünglich verkehrsfremde Hindernisse bereits auf die Straße gelangt seien oder sich im Straßenkörper befänden. Beides sei hier nicht der Fall gewesen. Zu einer möglichst – nicht völlig – gefahrlosen Verkehrsabwicklung gehöre aber auch die Sorge dafür, dass Verkehrseinrichtungen wie z.B. Verkehrszeichen für einen Verkehrsteilnehmer mit durchschnittlicher Aufmerksamkeit durch einen beiläufigen, nicht durch Bäume, Hecken oder Teile von ihnen behinderten Blick deutlich und rechtzeitig erkennbar seien. Dieser Verpflichtung sei die Gemeinde schuldhaft nicht nachgekommen. Ihre Haftung entfalle nicht deshalb, weil auch die Eisenbahngesellschaft eine schuldhafte Pflichtverletzung begangen habe. Das habe die Verantwortlichkeit der Gemeinde nicht berührt.
Die Entscheidung zeigt, dass ein Verkehrssicherungspflichtiger, der seine Pflicht schuldhaft verletzt hat, sich nicht hinter einem anderen Sicherungspflichtigen "verstecken" kann, dem ebenfalls eine Pflichtverletzung – allerdings hinsichtlich einer anderen Gefahrenquelle – vorzuwerfen ist. Beide sind für ihren jeweiligen Verantwortungsbereich in vollem Umfang verantwortlich, denn beide Verpflichtungen bestehen nebeneinander.
Hinweis:
Ob die Pflichtverletzung des einen Sicherungspflichtigen schwerer wiegt als die des anderen oder ob beide Verstöße dasselbe Gewicht haben, ist für den Schadensersatzanspruch des Berechtigten unerheblich. Ein eventueller Ausgleich kann nur intern zwischen den beiden Verpflichteten herbeigeführt werden.