Zusammenfassung
Der Berichtszeitraum umfasst die Zeit von April bis September 2020.
Hinweis:
Die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen und juristischen Aufsätzen stand im Berichtszeitraum ganz im Zeichen der "Corona-Pandemie" und ihren rechtlichen Auswirkungen. Gleichwohl hat es eine Anzahl berichtenswerter straßenverkehrsrechtlicher Entscheidungen gegeben.
I. Zivilrecht
1. Die Betriebsgefahr (§ 7 StVG)
Eine Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG setzt voraus, dass die Fortbewegungs- und Transportfunktion des Kfz im Zeitpunkt des schadensauslösenden Ereignisses noch gegeben ist oder zumindest nachwirkt. Daran fehlt es, wenn ein Kfz, das sich zur Reparatur in einer Werkstatt befindet, durch Selbstentzündung einer Betriebseinrichtung (hier aufgrund eines Kurzschlusses) einen Brandschaden verursacht, sofern dabei nicht eine durch einen vorherigen Betriebsvorgang entstandene Gefahrenlage fort- bzw. nachwirkt (OLG Dresden zfs 2020, 317 m. Anm. Diehl in Abgrenzung zu BGH NJW 2019, 2227). Wird eine Betriebseinrichtung (wie Bremse, Lenkung) eines Kfz in einer Waschanlage genutzt und kommt es infolgedessen zu einem Unfall in der Waschstraße, ist dieser dem Betrieb des Kfz zuzurechnen (OLG Celle DAR 2020, 26 = VRR 5/2020, 14 [Burhoff]; Rechtsprechungsübersicht zu Kfz-Schäden in Waschanlagen bei Lehre DAR 2020, 531). Zur Reichweite der Haftung des Halters eines Anhängers nach § 7 Abs. 1 StVG hat sich der BGH geäußert (NJW 2020, 2116 m. Anm. Herbers = DAR 2020, 386): Der streitgegenständliche Schaden wurde dadurch verursacht, dass der bei der Beklagten haftpflichtversicherte Sattelauflieger durch starken Seitenwind gegen den auf demselben Parkplatz abgestellten Pkw der Klägerin geschoben wurde. Diese Gefahr wird vom Schutzzweck des § 7 Abs. 1 StVG erfasst, wenn sich das Fahrzeug zum Zeitpunkt der Unfallverursachung im Verkehrsraum befand. Der notwendige Zusammenhang zwischen dem Betriebsvorgang und der streitgegenständlichen Schadensursache ist dann gegeben, unabhängig davon, ob sich der Anhänger zum Zeitpunkt seiner Verschiebung schon in Bewegung befand oder durch den Wind "in Richtung der Räder" bewegt wurde. – Die Benutzung einer Fernbedienung zum Öffnen eines Garagentors geschieht nicht "bei Betrieb eines Kfz" (AG Velbert VRR 8/2020, 18 [Schroeder]).
Hinweis:
Zur Betriebsgefahr näher Rebler zfs 2020, 364. Die Ausweitung des Betriebsbegriffs nach § 7 Abs. 1 StVG in der Rechtsprechung beschreiben Piroth/Schmitz-Justen NZV 2020, 293.
2. Verstöße, Haftungsverteilung und Mitverschulden (§§ 9, 17 StVG, 254 BGB)
a) Kollisionen von Kfz
aa) Verstöße
Ereignet sich beim Linksabbiegen eines Pkw ein Verkehrsunfall mit einem sich auf einer bevorrechtigten Straße mit überhöhter Geschwindigkeit von links nähernden Motorrad, steht der festgestellte Geschwindigkeitsverstoß der Annahme eines gegen den Linksabbieger sprechenden Anscheinsbeweises jedenfalls dann nicht entgegen, wenn der Motorradfahrer für den Abbiegenden in der Annäherung erkennbar war (LG Saarbrücken zfs 2020, 258 = NJW-RR 2020, 2220 = NZV 2020, 430 [Ugur]). Der in dem einzigen zulässigen Linksabbiegerfahrstreifen Nachfolgende darf dem Voranfahrenden dessen Recht, zwischen mehreren markierten Fahrstreifen der Straße, in die abgebogen wird, zu wählen, nicht vorzeitig durch starkes Beschleunigen streitig machen, sondern hat abzuwarten, bis sich der Voranfahrende endgültig eingeordnet hat. Das Wahlrecht des Voranfahrenden endet erst mit seiner endgültigen Einordnung in einen Fahrstreifen, also i.d.R. frühestens 15 bis 20 m nach dem Beginn der Fahrstreifenmarkierungen (KG DAR 2020, 141 = NZV 2020, 375 [Pletter]). Auch im Baustellenverkehr gelten die beim Rückwärtsfahren zu beachtenden höchsten Sorgfaltspflichten (OLG Hamm NZV 2020, 204 [Felz]). Der Anscheinsbeweis eines Vorfahrtsverstoßes (§ 8 Abs. 2 S. 2 StVO) ist erst dann erschüttert, wenn eine Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten feststeht, bei der zumindest die Möglichkeit besteht, dass er für den Wartepflichtigen im Zeitpunkt seines Anfahrentschlusses nicht erkennbar war. Der Nachweis einer solchen Geschwindigkeit obliegt dem Wartepflichtigen (LG Saarbrücken NJW 2020, 2740 Ls. = NJW-RR 2020, 912). Der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden wird nicht allein dadurch erschüttert, dass der Vorausfahrende entgegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO ohne zwingenden Grund stark bremst (LG Saarbrücken zfs 2020, 197 = NJW-RR 2020, 158 = NZV 2020, 479 [Bachmor]).
bb) Quotenbildung und Mitverschulden
Wer eine stockende Kolonne überholen will, muss nach der Örtlichkeit sicher sein, dass kein Vorausfahrender links abbiegen will und dass eine Einscherlücke vorhanden ist (OLG Schleswig NJW-RR 2020, 800). Bildet sich auf einer Landstraße vor einer ampelgeregelten Baustelle ein kolonnenartiger Rückstau und überholt – in einer Phase, in welcher kein Gegenverkehr naht – ein Motorrad mit mäßiger Geschwindigkeit (ca. 15 km/h) diese Kolonne, trifft den Motorradfahrer auch unter Berücksichtigung der von seinem Motorrad ausgehenden Betriebsgefahr keine Mithaftung, wenn aus der Kolonne ohne jegliche Vorankündigung ein Pkw nach links ausschert, um in einen dort befindlichen Wirtschaftsweg einzubiegen, und es hierdurch zu einer Kollision mit dem Motorrad...