I. Vorbemerkung
Die Verfassungsbeschwerde ist – entgegen einer verbreiteten Meinung in der Bevölkerung – relativ jung. Erst im Zusammenhang mit der Notstandsgesetzgebung Anfang 1969 wurde sie ins Grundgesetz (Art. 93 Nr. 4a GG) aufgenommen. Sie ist damit gerade einmal 50 Jahre alt. Im Herrenchiemsee-Entwurf zum Grundgesetz war die Verfassungsbeschwerde zwar ausdrücklich vorgesehen, der parlamentarische Rat lehnte sie aber ab.
Bei der Verfassungsbeschwerde handelt es sich um einen außerordentlichen Rechtsbehelf eigener Art ohne aufschiebende Wirkung; dieser schützt die Grundrechte und gleichgestellte verfassungsmäßige Rechte der Bürger gegenüber Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Das Bundesverfassungsgericht als das zur Entscheidung über Verfassungsbeschwerden berufene Gericht ist dabei – was vielfach übersehen wird – keine "Superrevisionsinstanz". Es entscheidet nicht darüber, ob eine angegriffene Entscheidung materiell-rechtlich richtig oder falsch ist, sondern es geht einzig und allein um die prozessuale Durchsetzung von Grundrechten.
In den Jahren 2013 bis 2017 gingen beim Bundesverfassungsgericht durchschnittlich mehr als 6.200 Verfassungsbeschwerden pro Jahr ein, zuletzt mit leicht fallender Tendenz. Der Anteil der stattgegebenen Verfassungsbeschwerden liegt für diesen Zeitraum durchweg im niedrigen einstelligen Prozentbereich bei nahezu gleichbleibender Tendenz. Knapp 2/3 der Verfahren wurden innerhalb eines Jahres und knapp ¼ innerhalb von zwei Jahren entschieden (zu den Statistiken s. www.bundesverfassungsgericht.de: Verfahren – Jahresstatistiken).
Hinweis:
Auch vor dem Hintergrund dieser Zahlen sollte der Rechtsanwalt seine Mandanten bzgl. der möglichen Erfolgsaussichten beraten. Nicht jedes noch so schreiendes Unrecht vermag einer Verfassungsbeschwerde auch zum Erfolg verhelfen.
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen
1. Fristen
Die Verfassungsbeschwerde ist binnen eines Monats zu erheben und zu begründen, § 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG. Bei Verfassungsbeschwerden gegen ein Gesetz oder einen nichtjustiziablen Hoheitsakt beträgt die Frist ein Jahr, § 93 Abs. 3 BVerfGG. Diese Fristen sind nicht verlängerbare Ausschlussfristen (zur Wiedereinsetzung vgl. unten II. 1. b).
Die fristgerechte Begründung erfordert nach den Bestimmungen zur Substantiierung der Verfassungsbeschwerde, dass jedenfalls die angegriffenen Hoheitsakte vollständig vorgelegt oder wenigstens ihrem wesentlichen Inhalt nach zusammenhängend mitgeteilt werden. Zudem muss bereits mit der Erhebung der Verfassungsbeschwerde innerhalb der Monatsfrist bzw. der Jahresfrist der Angriff in der nötigen Substantiierungstiefe geführt werden. Damit wird die Erhebung der Verfassungsbeschwerde an Voraussetzungen geknüpft, die in aller Regel den Rechtsmitteln wie Rechtsbehelfen der Fachgerichtsbarkeit fremd sind. Abzuraten ist auch von der üblichen Verfahrensweise, einen Beschwerdeschriftsatz "vorab per Fax ohne Anlagen" zur Fristwahrung zu versenden, da dies zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde führt und dieser Mangel nicht heilbar ist (Hammer, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2015, § 93 Rn 6 m.w.N.).
Praxishinweis:
Vorsicht ist bei einer allgemeinen Bezugnahme im Beschwerdeschriftsatz geboten. Das Bundesverfassungsgericht wird sich nicht durch ein Anlagenkonvolut durcharbeiten und das Entscheidende heraussuchen. Es muss vielmehr ganz konkret Bezug genommen werden. In Zweifelsfällen sollte in der Beschwerdeschrift wörtlich aus den jeweiligen Schriftstücken zitiert werden.
Für die Fristberechnung gelten im Übrigen die allgemeinen Grundsätze. Problematisch kann mitunter die Bestimmung des Fristbeginns sein:
a) Verfassungsbeschwerde gegen Urteile
Die Monatsfrist beginnt mit der Zustellung oder formlosen Mitteilung der in vollständiger Form abgefassten Entscheidung, wenn diese nach den maßgebenden verfahrensrechtlichen Vorschriften von Amts wegen vorzunehmen ist, § 93 Abs. 1 S. 2 BVerfGG. Die "maßgeblichen verfahrensrechtlichen Vorschriften" sind die Vorschriften des Ausgangsverfahrens (BVerfGE 9, 109, 114). Wird nicht zugestellt oder formlos mitgeteilt, kommt es auf die Verkündung bzw. die sonstige Bekanntgabe an, § 93 Abs. 1 S. 3 BVerfGG. Für diesen Fall ist die Möglichkeit der Fristunterbrechung nach § 93 Abs. 1 S. 3 Hs. 2 BVerfGG zu beachten: Wird dabei dem Beschwerdeführer eine Abschrift der Entscheidung in vollständiger Form nicht erteilt, so wird die Monatsfrist dadurch unterbrochen, dass der Beschwerdeführer schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle die Erteilung einer in vollständiger Form abgefassten Entscheidung beantragt und die Unterbrechung dauert fort, bis die Entscheidung in vollständiger Form dem Beschwerdeführer von dem Gericht oder von Amts wegen oder von einem an dem Verfahren Beteiligten zugestellt wird, § 93 Abs. 1 S. 4 BVerfGG.
Praxishinweis:
Durch die Einlegung eines offensichtlich unzulässigen Rechtsmittels und die Zurückweisung des Rechtsmittels als unzulässig durch das Gericht beginnt die Monatsfrist nicht erneut zu laufen (BVerfGE 5, 17, 19; 91, 93, 106). Die Unzulässigke...