Bei der lebzeitigen Übertragung im Wege der vorweggenommenen Erbfolge ist in der Beratungspraxis der Pflichtteilsergänzungsanspruch etwaiger übergegangener gesetzlicher Erben als auch von Miterben zu beachten. Wie bereits oben beschrieben, können lebzeitige Schenkungen, sofern sie frühzeitig erfolgen, die Pflichtteilslast des bzw. der Erben im Erbfall deutlich reduzieren. Die Entstehung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs bedingt, dass es sich um eine unentgeltliche Schenkung handelt (zu den Begrifflichkeiten vgl. I. in Teil 1 des Beitrags, F. 12, S. 429 ff.).
Bei der Beratung ist die Zehnjahresfrist des § 2325 Abs. 3 S. 1 BGB zu beachten. Danach wird die Schenkung innerhalb des ersten Jahres vor dem Erbfall in vollem Umfang, innerhalb jedes weiteren Jahres vor dem Erbfall um jeweils ein Zehntel weniger berücksichtigt. Das sog. Abschmelzungsmodell hat mit der Reform des Erb- und Verjährungsrechts, welches zum 1.1.2010 in Kraft getreten ist, die sog. Alles-oder-Nichts-Regelung ersetzt (Müko/Lange, § 2325 BGB, Rn 61). Sind zehn Jahre seit der Leistung des verschenkten Gegenstandes verstrichen, bleibt die Schenkung unberücksichtigt (§ 2325 Abs. 3 S. 2 BGB). Den Fristbeginn bestimmt die jeweilige Vollziehungshandlung, beispielsweise die Übergabe bei beweglichen Sachen bzw. die Eintragung im Grundbuch bei unbeweglichen Gegenständen. In vielen Fällen sind aber Besonderheiten für den Fristbeginn zu beachten.
a) Schenkungen unter Ehegatten
Erfolgt die Schenkung an den Ehegatten des Erblassers, beginnt die Zehnjahresfrist nicht vor der Auflösung der Ehe (§ 2325 Abs. 3 S. 3 BGB). Entsprechend löst eine Schenkung an den Ehegatten nahezu immer den Pflichtteilsergänzungsanspruch aus. Wird die Ehe durch Tod aufgelöst, sind somit alle während der gesamten Ehe von dem Erblasser an seinen überlebenden Ehegatten gemachten Schenkungen ergänzungspflichtig. Dies gilt selbst für den Fall, dass die Schenkungen Jahrzehnte zurückliegen. Anders sieht es aus, wenn die Ehe schon vor dem Erbfall durch Scheidung, durch Aufhebung oder durch den Tod des beschenkten Ehegatten aufgelöst wurde und seit dem Erbfall mindestens zehn Jahre verstrichen sind. In diesen Fällen bleiben etwaige Schenkungen an den Ehegatten bei der Pflichtteilsergänzung unberücksichtigt.
Hinweis:
Bei ehebezogenen Zuwendungen handelt es sich um Rechtsgeschäfte familienrechtlicher Art (vgl. I. in Teil 1 des Beitrags ZAP F. 12, S. 429, 431). Entsprechend liegt eine Schenkung i.d.R. wegen der fehlenden Einigung über die Unentgeltlichkeit nicht vor. Zur Verhinderung dieses Missbrauchspotenzials im Pflichtteilsergänzungsrecht werden ehebezogenen Zuwendungen hier als Schenkungen qualifiziert. Es genügt eine objektive Unentgeltlichkeit. Diese liegt vor, wenn die Leistung weder unterhaltsrechtlich geschuldet noch der Alterssicherung oder der Vergütung von Diensten dient noch ihr eine sonst – ganz oder teilweise – vergütete konkrete Gegenleistung des anderen Ehegatten gegenübersteht (BGH, Urt. v. 27.11.1990 – IV ZR 164/90, BGHZ 116, 167).
b) Vorbehalt von Nutzungsrechten
Behält sich der Übertragende zur eigenen Altersabsicherung Nutzungsrechte wie ein Nießbrauchrecht oder ein Wohnrecht vor, hemmt dies i.d.R. den Fristbeginn der Zehnjahresfrist. Gemäß dem BGH kann eine den Fristbeginn auslösende Leistung nur dann vorliegen, wenn der Erblasser nicht nur seine Rechtsstellung als Eigentümer endgültig aufgibt, sondern auch darauf verzichtet, den verschenkten Gegenstand weiterhin im Wesentlichen zu nutzen, sei es aufgrund des Vorbehalts dinglicher Rechte oder durch Vereinbarung schuldrechtlicher Ansprüche (BGH, Urt. v. 27.4.1994 – IV ZR 192/93, NJW 1994, 1791). Beim Vorbehaltsnießbrauch gibt der Erblasser den Genuss des verschenkten Gegenstandes gerade nicht auf, wodurch die Frist erst mit dem Erlöschen des Nießbrauchrechts beginnt (BGH, a.a.O., NJW 1994, 1791). Dies wird bei einem lebenslangen Nießbrauchrecht i.d.R. erst mit dem Tod des Übertragenden eintreten. Bei dem Vorbehalt eines Quotennießbrauchs wird vertreten, dass die Frist zumindest dann zu laufen beginnt, wenn sich der Übertragende einen Anteil von weniger als 50 % vorbehalten hat (Grüneberg/Weidlich, § 2325 BGB, Rn 27 m.w.N.).
Beim Wohnungsrecht hängt die Frage nach dem Fristbeginn maßgeblich vom Einzelfall ab. Soweit sich das vorbehaltene Wohnungsrecht auf das gesamte Grundstück bezieht, dürfte es wie das Nießbrauchrecht zu behandeln sein. Betrifft das Wohnungsrecht hingegen nur einen Teil des verschenkten Gegenstandes, beispielweise das Recht wird sich an einer von mehreren Wohnungen vorbehalten, soll dies den Fristbeginn nicht hemmen (BGH, Urt. v. 29.6.2016 – IV ZR 474/15, NJW 2016, 2957). So auch zuletzt das OLG Zweibrücken:
Zitat
„Hat sich der Erblasser bei der Übertragung eines Grundstücks ein ausschließliches Wohn- und Benutzungsrecht an einer von zwei Wohnung sowie das Mitbenutzungsrecht an gemeinschaftlichen Anlagen und Einrichtungen vorbehalten, steht dies der Annahme einer Leistung i.S.v. § 2325 Abs. 3 S. 2 BGB nicht entgegen” (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 1.9.2020 – 5 U 50/19, ZE...