Eine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Nachzahlungszinsen war lange überfällig. Das BVerfG hat zutreffend festgestellt, dass eine Verzinsung mit 6 % p.a. beginnend mit der Niedrigzinspolitik ab Ausbruch der weltweiten Finanzkrise 2008 nicht mehr zu rechtfertigen ist. Dies ist aus Sicht der Steuerpflichtigen grds. zu begrüßen.
Hinsichtlich der Fortgeltungsanordnung dieser festgestellt verfassungswidrigen Rechtslage wirkt die Entscheidung allerdings mutlos und in Teilen fiskalisch motiviert. Die Begründung der erheblichen haushaltswirtschaftlichen Unsicherheiten ist nicht überzeugend und führt im Ergebnis dazu, dass der Fiskus die sich eigentlich aufdrängende verfassungswidrige Lage nahezu schadlos überstanden hat. In Folge der entsprechenden Verwaltungsanweisungen hatte das kassenmäßige Aufkommen der Vollverzinsung bereits seit 2018 erheblich abgenommen.
Für die Beratungspraxis bleibt ebenfalls offen, ob sich Auswirkungen auf weitere in den §§ 234 ff. AO geregelte Zinsen (z.B. Stundungs-, Aussetzungs- und Hinterziehungszinsen) ergeben. Zwar besteht hier der Unterscheid, dass es vom Steuerpflichtigen selbst abhängt, ob er den Verzinsungstatbestand erfüllt. Dies kann aber letztlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Zweck der Verzinsung ist, Vorteile abzuschöpfen, die Steuerpflichtige dadurch erlangen, dass sie das Kapital, das materiell-rechtlich seit dem Zeitpunkt der Entstehung des Steueranspruchs dem Fiskus zusteht, gewinnbringend nutzen konnten. Es bleibt somit dabei, dass aufgrund der anhaltenden Nullzinspolitik ein entsprechender Vorteil beim Steuerpflichtigen gar nicht erst entsteht. Der Gesetzgeber würde daher gut daran tun, auch über den vom Verfassungsgericht vorgegebenen Rahmen hinaus eine grundsätzliche Neuregelung der Zinshöhe für sämtliche Verzinsungen im Steuer- und Sozialversicherungsrecht zu schaffen.
Ein ähnlich gelagertes Problem stellt sich bei den Säumniszuschlägen i.S.d. § 240 AO, deren Höhe zumeist über eine zusätzliche Druckfunktion zur Vornahme der Zahlung gerechtfertigt wird. Sofern diese Druckfunktion wegen eingetretener Insolvenz des Steuerpflichtigen nicht mehr gegeben ist, hat das FG Münster (Beschl. v. 16.3.2021 – 12 V 16/21 AO, EFG 2021, 914) in einem summarischen Verfahren bereits festgestellt, dass ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Säumniszuschläge bestehen. Der durch das Finanzamt erhobenen Beschwerde half der BFH nicht ab.
Hinweis:
Da die Finanzverwaltung mit BMF-Schreiben vom 17.9.2021 (IV A 3 – S 0338/19/10004:005, DOK 2021/0957238; DStR 2021, 2303, dort unter VII.) bereits angekündigt hat, die Entscheidung nicht für andere Verzinsungstatbestände zu berücksichtigen, ist daher anzuraten unter Verweis auf die Entscheidung des BVerfG sowie die ausstehende Neuregelung vorsorglich auch gegen die Festsetzung von Stundungs-, Aussetzungs- und Hinterziehungszinsen Einspruch zu erheben.
Hinsichtlich der Vollverzinsung sind nunmehr 3 Fallgruppen zu unterscheiden, zu deren Behandlung sich auch das BMF bereits geäußert hat (BMF-Schreiben v. 17.9.2021, a.a.O.).
1. Verzinsungszeiträume für das Jahr 2013 und früher
Diese Verzinsungszeiträume sind von der Verfassungswidrigkeit nicht betroffen. In noch offenen Einspruchsverfahren über die Zinsfestsetzung wird die Finanzverwaltung die Einsprüche entsprechend der Anweisung des BMF als unbegründet zurückweisen und eine eventuell gewährte Aussetzung der Vollziehung beenden.
2. Verzinsungszeiträume für das Jahr 2014 bis einschließlich 2018
Gleichwohl das BVerfG für diese Zeiträume die Verfassungswidrigkeit der Vollverzinsung festgestellt hat, bleibt die verfassungswidrige Regelung aufgrund der Fortgeltungsanordnung anwendbar. Auch hier werden die damals aufgrund der unsicheren Rechtslage massenhaft erhobenen Einsprüche als unbegründet zurückgewiesen und gewährte Aussetzungen der Vollziehung beendet werden (IV. und VI. des BMF-Schreibens). Es ist davon auszugehen, dass gem. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO vorläufig ergangene Zinsfestsetzungen nur auf Antrag als endgültig festgesetzt erklärt werden (§ 165 Abs. 2 S. 4 AO). Im Falle der erstmaligen Festsetzung wird die Finanzverwaltung die bestehende Regelung aufgrund der Fortgeltungsanordnung weiterhin anwenden.
Aus Sicht des Beraters bleibt hier nur zu überprüfen, ob eine Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks oder des Vorbehalts der Nachprüfung zu beantragen ist.
3. Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2019
Sämtliche erstmalige Festsetzungen von Zinsen gem. § 233a AO wird die Finanzverwaltung gem. § 165 Abs. 1 S. 4, S. 2 Nr. 2 AO aussetzen. Die Festsetzung erfolgt dann im Anschluss an die Neuregelung durch den Gesetzgeber. Im Falle einer Berichtigung einer unter Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Zinsfestsetzung gem. § 164 Abs. 2 AO oder einer Aufhebung des Vorbehalts, werden die betragsmäßig neu festzusetzenden Zinsen von der Festsetzung ausgesetzt. Für bereits festgesetzte Beträge wird die Zinsfestsetzung gem. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO für vorläufig erklärt. Im Falle einer Berichtigung aus anderen Gründen gilt dies sinngemäß.
Bestehende Einspruchsverfahren wird die Finanzverwaltung unter Verweis auf Rn 253 der Entscheidung des BVe...