I. Vorbemerkung
Zuletzt wurde über allgemeine "Entwicklungen im Franchise-Recht" in 2019 (ZAP F. 6, 589 ff.) berichtet. Dabei standen u.a. zu europarechtlichen Vorschriften die Geoblogging-Verordnung (EU-VO 2018-302), die Datenschutzgrundverordnung (EU-VO 2016-679) und die EU-Richtlinie zum Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Informationen (EU RL 2016/943) im Vordergrund. In den beiden aktuell inâEUR™2022 erschienenen Beiträgen (ZAP F. 6, 609 ff. sowie ZAP F. 6, 625 ff.) ging es in Teil 1 um die Auswirkungen und die Rechtsprechung zur Corona-Pandemie für Franchise-Systeme bzw. in Teil 2 um aktuelle Entscheidungen zum Franchise-Recht. Diese Entwicklungen zeigen insgesamt, dass sich das Franchise-Recht zu einem Konglomerat-Recht entwickelt hat, geprägt durch Entwicklungen in allen Rechtsgebieten (grds. dazu Flohr ZVertriebsR 2022, 8 ff.).
Von besonderer Bedeutung ist dabei das EU-Vertriebskartellrecht (s. dazu: Bauer/Rahlmeyer/Schöner, Vertriebskartellrecht) und damit die neue EU-Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikale Vertriebsbindungen (EU-VO 720/2022), die die Vertikal-GVO (EU-VO 330/2010) seit dem 1.6.2022 ersetzt und die die vertriebskartellrechtliche Grundlage für die Ausarbeitung von Franchise-Verträgen, aber auch zur Lösung kartellrechtlicher Fragestellungen im Vertriebs- und damit auch Franchiserecht darstellt (s. dazu u.a.: Rohrssen ZVertriebsR 2021, 293).
II. EU-Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vertriebsbindungen (Vertikal-GVO)
1. Einleitung
Die bis zum 30.6.2022 geltende Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikale Vertriebsbindungen (EU-VO 330/2010) war die Richtlinie für die Gestaltung von Franchise-Verträgen und wurde daher nicht umsonst als safe harbor für Vertriebsvereinbarungen bezeichnet (so ausdrücklich: Rohrssen, a.a.O., 293; grds. zur derzeitigen Vertikal-GVO: Petsche/Lager in: Liebscher/Flohr/Petsche, Handbuch der EU-Gruppenfreistellungsverordnungen, 2. Aufl. 2012, § 7, S. 163 ff.).
Diese Vertikal-GVO, aber auch die erste Vertikal-GVO (EU-VO 2790/90) sowie die vorangegangene EU-GVO für Franchise-Vereinbarungen (EU-VO 4087/88) waren und sind das Herzstück vertikaler Vereinbarungen zwischen Anbietern von Waren und Dienstleistungen und deren Absatzmittlern und damit auch das Herzstück kartellrechtlicher Fragen des Franchise-Rechts und solche bei der Gestaltung eines Franchise-Vertrags. Insofern kommt dem EU-Kartellrecht für die vertriebsvertragliche Praxis des Franchising erhebliche Bedeutung zu, worauf Martinek (in: Martinek/Semler/Flohr, Handbuch des Vertriebsrechts, 4. Aufl. 2016, § 31 Rn 17 mit umfassender Darstellung der Entwicklung des EU-Kartellrechts für Franchise-Verträge; s. auch zur historischen Bedeutung der Gruppenfreistellungsverordnungen für Franchise-Verträge Flohr in: Liebscher/Flohr/Petsche, a.a.O., § 14 Rn 1 ff.) zu Recht hinweist.
2. Vertikal-GVO ab 1.6.2022
a) Unveränderte Struktur der Vertikal-GVO
Wer nun geglaubt hat, dass die seit dem 1.6.2022 geltende EU-Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vertriebsbindungen (EU-VO 720/2022) wesentliche Änderungen für Franchise-Verträge mit sich bringt, sieht sich „enttäuscht”.
Bei Franchise-Verträgen bleibt dem Grunde nach „alles beim Alten”. Artikel 2 III Vertikal-GVO stellt klar, dass Franchise-Verträge – wie bisher – grds. auch durch die Vertikal-GVO vom Kartellverbot des Art. 101 AEUV freigestellt sein können. Dies betrifft insb. die eingeräumten Franchise-Rechte an Schutzrechten, insb. Marken sowie des geheimen Know-hows des Franchise-Systems.
Insofern bleibt es für Franchise-Verträge bereits bei der vom EuGH in seinem Urt. v. 21.1.1986 (Rs. 161/84 – Pronuptia) getroffenen Feststellung, dass „unerlässliche” Regelungen vertragsimmanent und daher kartellrechtlich unbedenklich sind, weil das Vertriebsmodell des Franchising einheitliche Produkte und ein einheitliches Auftreten am Markt voraussetzt (so auch ausdrücklich: Rohrssen, a.a.O., 296 unter Ziff. 5.; s.a. Uhlig/Walzel ZVertriebsR 2022, 80 [151, 274]).
b) Inhaltliche Änderungen
Soweit es um inhaltliche Änderungen gegenüber der bis zum 30.6.2022 geltenden Vertikal-GVO (EU-VO 330/2010) geht, halten diese sich in der neuen Vertikal-GVO in Grenzen.
Betroffen davon sind:
- Wettbewerbsverbote
- Alleinvertrieb
- Selektiver Vertrieb
- Freier Vertrieb
- Online-Vertrieb/Handelsplattformen
- Dualer Vertrieb
Dabei sind für Franchise-Systeme insb. die Änderungen zum Informationsaustausch beim Dualen Vertrieb, Online-Vertrieb und beim Wettbewerbsverbot von grundsätzlicher Bedeutung.
Zwar könnte man meinen, ein Franchise-Vertrag sei trotz Art. 2 III Vertikal-GVO als eine Vereinbarung zwischen Wettbewerbern Franchise-Geber/Franchise-Nehmer nicht von der Vertikal-GVO freigestellt, doch liegen bei Franchise-Systemen grds. auch die Voraussetzungen von Art. 2 IV 2 Vertikal-GVO vor, da Franchise-Geber i.d.R. zumindest in einem „flagship-store” auch die Produkte des Franchise-Systems absetzen, sodass:
- ein dualer Vertrieb vorliegt, d.h. neben dem Franchise-Nehmer auch der Franchise-Geber die Produkte/Dienstleistungen gegenüber Endverbrauchern erbringt (z.B. Online-/eigene Shops) und
- der Marktanteil auf dem Einzelhandelsmarkt nicht mehr als 30 % beträgt.
Insofern ergibt sich auch insoweit ke...