Der Sechste Senat des BAG setzt – unter Rechtsprechungsänderung – mit Urteil vom 26.1.2017 (6 AZR 442/16, ZIP 2017, 692) die Vorgaben des BVerfG (Beschl. v. 8.6.2016 – 1 BvR 3634/13) um und hebt seine frühere Entscheidung (Urt. v. 25.4.2013 – 6 AZR 49/12) auf:
Die Klägerin war in einem Betrieb mit 36 Arbeitnehmern tätig. Bei Betriebsschließung war sie in Elternzeit. Am 17.12.2009 erstattete die Arbeitgeberin Massenentlassungsanzeige zur Beendigung aller 36 Arbeitsverhältnisse, ohne zuvor das erforderliche Konsultationsverfahren gem. § 17 Abs. 2 KSchG durchgeführt zu haben (s. hierzu BAG v. 13.12.2012 – 6 AZR 752/11). Mit Schreiben vom Heiligabend (24.12.2009) und vom 15.1.2010 kündigte die Beklagte alle Arbeitsverhältnisse – nur das der Klägerin nicht. Gleichfalls am 17.12.2009 ging der Antrag der Beklagten auf Zustimmung zur Kündigung der Klägerin bei der zuständigen Behörde ein. Die Zustimmung wurde mit Bescheid vom 2.3.2010 erteilt. Daraufhin erhielt die Klägerin die streitgegenständliche Kündigung vom 10.3.2010. Die Klägerin hielt diese wegen Verstoßes gegen § 17 Abs. 2 KSchG für unwirksam, verlor aber in allen drei Instanzen, weil der Schwellenwert des § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KSchG bei Zugang dieser Kündigung nicht mehr erreicht und der 30-Tageszeitraum des § 17 Abs. 1 KSchG verstrichen gewesen war (vgl. BAG a.a.O.).
Massenentlassungen innerhalb von 30 Kalendertagen bedürfen nach Maßgabe von § 17 KSchG zu ihrer Wirksamkeit zweier Voraussetzungen: (1) einer vorherigen ordnungsgemäßen Konsultation des Betriebsrats und (2) einer vorherigen ordnungsgemäßen Anzeige an die Agentur für Arbeit.
Dieser durch § 17 KSchG gewährleistete Schutz ist europarechtlich durch die Richtlinie 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie – MELR) determiniert. Nach der Rechtsprechung des EuGH (v. 27.1.2005 – C-188/03, "Junk") ist unter "Entlassung" die Kündigungserklärung zu verstehen.
Hiervon ausgehend hielt das BAG die Kündigung vom 10.3.2010 gegenüber der Arbeitnehmerin für wirksam, die sich zur Zeit der wegen einer Betriebsstilllegung durchgeführten Massenentlassungen in Elternzeit befand und deren Arbeitsverhältnis erst nach Ablauf des Zeitraums von 30 Kalendertagen gekündigt wurde, obwohl sich die Kündigungen der übrigen Arbeitsverhältnisse mangels einer ordnungsgemäßen Konsultation des Betriebsrats gem. § 17 KSchG als unwirksam erwiesen hatten (BAG v. 25.4.2013 – 6 AZR 49/12).
Das BVerfG hat mit Beschluss vom 8.6.2016 (1 BvR 3634/13) dieses Urteil aufgehoben, weil es die Klägerin in ihren Grundrechten aus Art. 3 i.V.m. Art. 6 GG verletze. Die Klägerin werde unzulässig wegen der von ihr in Anspruch genommenen Elternzeit und wegen ihres Geschlechts benachteiligt, wenn ihr der Schutz vor Massenentlassungen versagt werde, weil das Abwarten der wegen der Elternzeit notwendigen behördlichen Zustimmung zur Kündigung dazu geführt habe, dass die Kündigung erst nach Ablauf des 30-Tageszeitraums erklärt wurde. In diesen Fällen gelte der 30-Tageszeitraum auch dann als gewahrt, wenn die Antragstellung auf Zustimmung der zuständigen Behörde zu der Kündigung innerhalb dieses Zeitraums erfolgt sei. An diese nationalrechtliche Erweiterung des Entlassungsbegriffs bei Massenentlassungen durch das BVerfG ist der Sechste Senat des BAG gebunden.
Das BAG hat deshalb nun auf die Revision der Klägerin festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 10.3.2010 nicht aufgelöst worden ist, weil bei Arbeitnehmern in Elternzeit Entlassung i.S.d. § 17 KSchG bereits der Eingang des Antrags auf Zustimmung zur Kündigung bei der zuständigen Behörde ist.
Hinweise:
1. |
Bisher hat das Unionsrecht Schlagzeilen gemacht – nun ist es das BVerfG! Es erweitert den (unionsrechtlichen) Entlassungsbegriff aufgrund grundgesetzlicher Wertung (BAG a.a.O., Rn 29)! |
2. |
Die Entscheidung wirft verschiedene Probleme auf, u.a.:
(1) |
§ 18 BEEG bietet keinen dem § 17 KSchG bzw. der MERL entsprechenden Kündigungsschutz. Für welche weiteren Sonderkündigungsschutztatbestände gilt dies auch? Der Struktur nach wohl § 85 SGB IX, § 9 MuSchG, § 4 PflegeZG etc. |
(2) |
Was passiert, wenn der Kündigungsantrag außerhalb der 30-tägigen Frist des § 17 KSchG erfolgt? |
(3) |
Was ist, wenn die behördliche Zustimmung erst außerhalb der 90-tägigen Freifrist des § 18 Abs. 4 KSchG erteilt wird? – Bedarf es einer erneuten Antragstellung auf Zustimmung zur Kündigung? Nach welchen Regeln hätte diese zu erfolgen? |
(4) |
Was ist, wenn eine Reihe von Kündigungen (Wellenkündigung) so gestaffelt wird, dass der Massenentlassungsschutz nicht eingreift, obwohl er kumulativ erreicht wäre? Gelten die Grundsätze der Wellenkündigung auch für § 18 BEEG? |
(5) |
Was gilt, wenn bei einer Arbeitnehmerin in Elternzeit die Kündigung als solche zugleich Teil einer zweiten, § 17 KSchG unterfallenden Welle von Kündigungen ist? |
|