Bei einem Zusammenstoß zwischen einem Linksabbieger und einem entgegenkommenden Geradeausfahrer trifft i.d.R. den Linksabbieger die volle Haftung, da er das Vorrecht des anderen Verkehrsteilnehmers aus § 9 Abs. 3 StVO missachtet hat. Eine Mithaftung des Geradeausfahrers kommt nur unter bestimmten Umständen in Betracht.
Fährt der Geradeausfahrer bei Grünlicht in die Kreuzung ein, kann i.d.R. nur von der Alleinhaftung des Linksabbiegers ausgegangen werden (BGH NJW-RR 2007, 1077). Missachtet der Geradeausfahrer das Rotlicht einer Ampel, wird ihn i.d.R. die volle Haftung treffen. Dies gilt erst recht, wenn für den Linksabbiegerverkehr ein gesonderter Linksabbiegerpfeil (§ 37 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StVO) vorhanden ist und dieser bereits aufgeleuchtet hat (BGH NJW 1982, 1756; KG VRS 112, 325; Grüneberg, a.a.O., Rn 222 u. 223).
Fährt der Geradeausfahrer dagegen noch bei Gelblicht in die Kreuzung ein oder hat der Linksabbiegerpfeil noch nicht aufgeleuchtet, kommt i.d.R. eine Schadensteilung im Verhältnis 1:1 in Betracht (OLG Hamm NZV 2001, 520; OLG Köln VersR 1992, 1016; Grüneberg, a.a.O., Rn 222 u. 224).
Bei ungeklärter Ampelstellung an einer Kreuzung mit gesondertem Linksabbiegerpfeil ist i.d.R. eine Schadensteilung im Verhältnis 1:1 vorzunehmen, weil bei Vorhandensein einer eigenen Ampelphase für den Linksabbiegerverkehr dem Linksabbiegen keine erhöhte Gefährlichkeit zukommt und damit die Betriebsgefahren beider Fahrzeuge gleich hoch sind (BGH NJW 1996, 1405; OLG Zweibrücken NJW-RR 2016, 1364; weitere Nachweise bei Grüneberg, a.a.O., Rn 225).
Folgt der Linksabbieger einer abknickenden Vorfahrtstraße, ohne dies anzuzeigen, ist i.d.R. eine Schadensteilung vorzunehmen, da dem Linksabbieger zwar das Vorfahrtrecht zusteht, er aber gleichwohl gem. § 9 Abs. 1 S. 1 StVO seine Fahrtrichtungsänderung anzuzeigen hat (BGH NJW 1966, 108 [25 %]; OLG Rostock NJW-RR 2011, 31 [70 %]; Grüneberg, a.a.O., Rn 226).
Bei einem Begegnungszusammenstoß in einem Bereich ohne besondere Verkehrsregelung trifft den Linksabbieger i.d.R. die volle Haftung, da er seiner Wartepflicht gem. § 9 Abs. 3 StVO nicht genügt hat (BGH VersR 1969, 1020; OLG Düsseldorf NZV 2006, 415; Grüneberg, a.a.O., Rn 227).
Bremst der Linksabbieger wegen Fußgängerverkehrs vor der Einmündung ab oder muss er deshalb sogar anhalten, hat er bei einem Zusammenstoß mit dem Gegenverkehr grundsätzlich die volle Haftung zu tragen. Denn vor dem Linksabbiegen muss der Fahrer beachten, ob im Einmündungsbereich gerade Fußgänger die Straße überqueren wollen, da er insoweit gem. § 9 Abs. 3 S. 3 StVO wartepflichtig ist (BGH VersR 1965, 899; KG VM 1976, 21). Fährt der Linksabbieger bereits vor dem Linksabbiegen zu weit links, kommt bei einem Zusammenstoß i.d.R. eine Schadensteilung mit einem Haftungsanteil zu Lasten des Geradeausfahrers zumindest in Höhe der einfachen Betriebsgefahr in Betracht, da in diesen Fällen der Geradeausfahrer mit einem Linksabbiegen rechnen muss und sich darauf mit seiner Fahrweise (Abbremsen, Herabsetzung der Geschwindigkeit) einzurichten hat (BGH NJW 1959, 1367 [50 %]; OLG Hamm NZV 1994, 318 [75 %]; OLG Schleswig r+s 1990, 233 [25 %]).
Eine Mithaftung des entgegenkommenden Geradeausfahrers kommt insbesondere bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung (§ 3 StVO) in Betracht, wobei mit zunehmender Überschreitung der Mithaftungsanteil zunimmt:
- bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von bis 50 % kann i.d.R. bereits eine Mithaftung des Geradeausfahrers in Höhe der einfachen Betriebsgefahr angenommen werden (BGH NJW 2003, 1929 [33 %]; OLG Hamm NZV 2010, 28 [30 %]; Grüneberg, a.a.O., Rn 230 u. 231);
- bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von über 50 % ist i.d.R. von der überwiegenden Mithaftung des Geradeausfahrers auszugehen, die sich u.U. sogar bis zur vollen Haftung erhöhen kann (BGH NJW 1984, 1962 [67 %]; OLG Saarbrücken DAR 2004, 93 [100 %]; Grüneberg, a.a.O., Rn 232).
Fährt der Geradeausfahrer bei Dunkelheit ohne Licht, wird ihn i.d.R. die überwiegende Mithaftung treffen (vgl. BGH NJW 2005, 1351; OLG Saarbrücken NJW-RR 2018, 86 [50 %]). Bei den übrigen Fällen eingeschränkter Sicht ist auf den Einzelfall abzustellen (KG VM 1990, 35 [80 %]; OLG Köln VersR 1988, 751 [70 %]). Bei einer irreführenden Fahrweise des Geradeausfahrers, wie z.B. der Betätigung des linken Blinkers bei gleichzeitiger Geradeausfahrt, kann seine Mithaftung zumindest in Höhe der einfachen Betriebsgefahr in Betracht kommen (OLG Celle zfs 1995, 86 [50 %]; Grüneberg, a.a.O., Rn 236; zu Fällen sonstiger Mitverursachung durch den Geradeausfahrer vgl. Grüneberg, a.a.O., Rn 237 f.).
Fährt der Geradeausfahrer an einer auf der Gegenfahrbahn stehenden Fahrzeugschlange vorbei, muss er damit rechnen, dass ein Fahrzeug von links durch eine Kolonnenlücke über seine Fahrspur abbiegen wird, so dass er sich mit seiner Fahrweise (z.B. Geschwindigkeitsherabsetzung, Bremsbereitschaft, Beobachtung des entgegenkommenden Verkehrs) darauf einzustellen hat. Es kommt daher stets eine Mithaftung des Geradeausfahrers zumindest in ...