Das BAG hat mit Urteil vom 25.4.2018 (2 AZR 6/18, NZA 2018, 1056) seine Rechtsprechung geändert und teilweise aufgegeben (BAG, Urt. v. 23.1.2014 – 2 AZR 582/13, NZA 2014, 962): Der Zweite Senat judiziert nun, dass ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung mit notwendiger Auslauffrist eines nach § 34 Abs. 2 S. 1 des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L, ebenso § 34 Abs. 2 TVöD) ordentlich unkündbaren Arbeitsverhältnisses vorliegen kann, wenn anhand der Krankheitszeiten im Regelreferenzzeitraum von drei Jahren damit zu rechnen ist, der Arbeitgeber werde für mehr als ein Drittel der jährlichen Arbeitstage Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall leisten müssen.

Dem BAG lag folgender Sachverhalt zur Entscheidung vor: Der 1966 geborene, kinderlose, verheiratete Kläger war bei der Beklagten seit 1992 tätig. Es ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 % festgestellt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TV-L) Anwendung. Im Zeitraum vom 29.9.2011 bis zumindest 28.3.2013 fehlte der Kläger ununterbrochen. Im Übrigen war der Kläger immer wieder für höchstens zehn Arbeitstage arbeitsunfähig erkrankt. Die Erkrankungen beruhten auf psychischen Ursachen. Mit Schreiben vom 1.8.2016 hörte die Beklagte den Personalrat zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist an. Dieser stimmte der Kündigung zu, woraufhin die Beklagte dann das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 22.8.2016 außerordentlich zum 31.3.2017 kündigte.

Die Revision der Arbeitgeberin hat im Sinne der Aufhebung des LAG-Urteils und der Zurückverweisung Erfolg. Ein ordentlich unkündbarer Arbeitnehmer kann auch krankheitsbedingt mit sozialer Auslauffrist außerordentlich gekündigt werden. Der Senat bestätigt das Drei-Stufen-Schema: Negative Gesundheitsprognose (1. Stufe), erhebliche Beeinträchtigungen der betrieblichen Interessen, sowohl aufgrund von Betriebsablaufstörungen als auch von wirtschaftlichen Belastungen (2. Stufe), umfassende Interessenabwägung, ob die Beeinträchtigung vom Arbeitgeber billigerweise noch hingenommen werden müssen (3. Stufe).

Auf der 1. Stufe ist der Zugang zur Kündigung nur eröffnet, wenn die negative Prognose in einem Regelreferenzzeitraum von drei Jahren getroffen werden kann. Der Ansicht des LAG, ein wichtiger Grund könne nicht vorliegen, sofern der Arbeitnehmer voraussichtlich noch zu deutlich mehr als der Hälfte seiner Arbeitszeit zur Verfügung stehe, erteilt das BAG (zweifach) eine Absage. Der Zweite Senat geht für § 34 TV-L im Wege der Auslegung der Tarifnorm davon aus, dass angesichts des geringen Lebensalters und der geringen Beschäftigungsdauer als Voraussetzung sowie dem vollständigen Ausschluss der ordentlichen Kündigung als Rechtsfolge, die Belastung mit Entgeltfortzahlungskosten für durchschnittlich mehr als ein Drittel der Arbeitstage pro Jahr eine gravierende Äquivalenzstörung darstelle und deshalb einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung eines ordentlich unkündbaren Arbeitsverhältnisses bilden kann. Weiter seien die verwertbaren Restarbeitszeiten des Arbeitnehmers lediglich ein Faktor im Rahmen der Interessenabwägung. An dem Maßstab von 18,81 Wochen (vgl. BAG, Urt. v. 23.1.2014 – 2 AZR 582/13 Rn 33, MDR 2014, 1158) halte der Senat nicht mehr fest. Der Zweite Senat hat erstmalig entschieden, dass (tarifliche) Krankengeldzuschüsse nicht als kündigungsbegründende Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Interessen des Arbeitgebers anerkannt werden können.

 

Hinweis:

  • Das BAG geht in ständiger Rechtsprechung von einer dreistufigen Prüfung aus:

    • 1. Stufe Negative Gesundheitsprognose: Im Kündigungszeitpunkt müssen objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen. Häufige Kurzerkrankungen in der Vergangenheit können indiziell für eine entsprechende künftige Entwicklung sprechen.
    • 2. Stufe: Die prognostizierten Fehlzeiten sind nur dann geeignet, eine krankheitsbedingte Kündigung zu rechtfertigen, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Dabei sind zwei Umstände zu beachten: (1) Betriebsablaufstörungen oder (2) wirtschaftliche Belastungen, durch zu erwartende, einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen pro Jahr übersteigende Entgeltfortzahlungskosten.
    • 3. Stufe Interessenabwägung: Müssen die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber billigerweise nicht mehr hingenommen werden (vgl. BAG, Urt. v. 23.1.2014 – 2 AZR 582/13 Rn 27, BAGE 147, 162)?
  • Bei einer außerordentlichen Kündigung ist der dreistufige Prüfungsmaßstab auf allen drei Stufen erheblich strenger (gravierende Äquivalenzstörung = sog. sinnentleertes Arbeitsverhältnis).
  • Der Zweite Senat bestätigt die Rechtsprechung zum dreijährigen Referenzzeitraum aus dem Jahr 2014, nun aber erstmalig zu Lasten eines Arbeitnehmers (zugunsten einer 52-jährigen Hilfsgärtnerin mit durchschnittlich 75,25 Arbeitstagen/Jahr Krankheitszeiten in den letzten zehn Jahren, aber 19, 67 und 55 Arbeitstagen in den letzten drei ...

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