Der praktisch tätige Anwalt weiß, dass Substantiierungsanforderung von Gerichten auf allen Ebenen flexibel ausgelegt werden. Im Zivilprozess sind die Fälle Legion, in denen von den Tatsachengerichten Substantiierungsanforderungen verlangt werden, die mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht vereinbar sind. Eine Möglichkeit der Abhilfe zum BGH bietet die Nichtzulassungsbeschwerde (hier: § 544 Nr. 7 ZPO), die freilich erst ab einer Beschwer i.H.v. 20.000 EUR möglich ist (§ 26 Nr. 8 EGZPO).
Substantiierungsanforderungen im Rahmen der Verfassungsbeschwerde sind zu streng, so dass von einem Stolpersteinprinzip berichtet wird (so Lübbe-Wolff, ehemalige Richterin des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 2004, 669 ff. und AnwBl. 2005, 509 ff.). Dass das Bundesverfassungsgericht als "Jedermann-Gericht" (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) "Stolpersteine" aufstellt, muss befremden, denn überstrenge Substantiierungsanforderungen verstoßen gegen Art. 19 Abs. 4 GG und das darin enthaltene Gebot des effektiven Rechtsschutzes. Losgelöst von der Problematik der Aufstellung von Stolpersteinen gegen Rechtsschutzbegehren, müssten in der Praxis diverse Substantiierungsanforderungen durch die verfassungsrechtliche Figur des "durchschnittlichen, nicht auf das gerade einschlägige Rechtsgebiet spezialisierten Rechtsanwalt" nicht zu halten sein.
In zwei jüngeren Beschlüssen hat das Bundesverfassungsgericht diese Kunstfigur bemüht. Im Beschluss vom 14.11.2016 (Az. 2 BvR 31/14), ebenso im Beschluss vom 9.6.2016 (Az. 1 BvR 2453/12, ZAP EN-Nr. 571/2016) führt das Bundesverfassungsgericht aus:
"Das Gebot effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet zwar keinen Anspruch auf die Errichtung eines bestimmten Instanzenzuges (m.w.N.). Hat der Gesetzgeber jedoch mehrere Instanzen geschaffen, darf der Zugang zu ihnen nicht in unzumutbarer und durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (m.w.N.). Das Gleiche gilt, wenn das Prozessrecht – wie hier die §§ 124, 124a VwGO – den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit gibt, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten (m.w.N.). Aus diesem Grund dürfen die Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe nicht derart erschwert werden, dass sie auch von einem durchschnittlichen, nicht auf das gerade einschlägige Rechtsgebiet spezialisierten Rechtsanwalt mit zumutbarem Aufwand nicht mehr erfüllt werden können und die Möglichkeit, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten, für den Rechtsmittelführer leerläuft."
Der "durchschnittliche, nicht auf das gerade einschlägige Rechtsgebiet spezialisierte Rechtsanwalt" begegnet uns im Zusammenhang mit überhöhten Substantiierungsanforderungen zur Rechtsmittelzulässigkeit auch in anderen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. So gesehen enthält der o.g. Beschluss nichts Neues, sondern setzt die ständige Rechtsprechung zu überhöhten Substantiierungsanforderungen zu §§ 124, 124a VwGO fort (vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.7.2013 – 1 BvR 3057/11; v. 22.8.2011 – 1 BvR 1764/09; v. 8.12.2009 – 2 BvR 758/07; v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09; v. 30.4.2008 – 2 BvR 482/07; v. 7.11.2013 – 2 BvR 1895/11; v. 24.8.2010 – 1 BvR 2309/09; v. 30.6.2005 – 1 BvR 2615/04; v. 8.3.2001 – 1 BvR 1653/99; v. 23.6.2000 – 1 BvR 830/00).
Wenn dieser "durchschnittliche Anwalt" aber der aus Art. 19 Abs. 4 GG folgende Maßstab ist, um das Rechtsmittel nicht – verfassungswidrig – leerlaufen zu lassen, dann müssen neben diversen Entscheidungen der Fachgerichte, vor allem die unzähligen Entscheidungen der Strafsenate zur Unzulässigkeit diverser Verfahrensrügen, weil die Substantiierungsanforderungen des § 344 Abs. 2 StPO nicht eingehalten wurden, in einem neuen Licht gesehen werden.
Meine bereits in der Kolumne "Vorsicht Rechtsanwalt – Eine Erwiderung" (ZAP 16/2015, S. 857 f.) berichtete Schätzung eines Richters des Bundesgerichtshofs, dass nur 30 bis 40 Kanzleien – trotz tausender "Fachanwälte für Strafrecht" – bundesweit "Revisionen könnten", d.h. die Anforderungen des § 344 Abs. 2 StPO an zulässige Verfahrensrügen im Einzelfall auch beherrschen, bekommt damit neues Gewicht, ebenso wie die statisch nachweisbare Erfolgsquote von Verfahrensrügen von nur noch ca. 1 %. Rechtstatsächlich bedeutet das, "daß ganz offenbar viele Anwälte den Anforderungen an eine sachgemäße Revisionsbegründung nicht gewachsen sind (...). Dies wiegt aufgrund des § 344 Abs. 2 vor allem bei der Verfahrensrüge schwer, so daß auch von daher die strengen oder überstrengen Anforderungen der Rechtsprechung zu dieser Vorschrift (...) fragwürdig erscheinen (...). Ganz offen aber ist, wie viele sachlich begründete oder sogar gebotene Revisionen als Folge fehlenden anwaltlichen Wissens oder Könnens zum Schaden der Betroffenen und der Sache nicht eingelegt werden" (LR-StPO/Franke, 26. Aufl., Vor § 333 Rn 14).
Der Topos des "durchschnittlichen, nicht auf das gerade einschlägige Rechtsgebiet spezialisierten Rechtsanwalts" sollte daher auch in weitere Gerichtsbarkeiten transportiert werden, denn Art. 19 ...