Mit klaren Worten hat das Bundesverfassungsgericht die von zwei Strafgerichten aufgestellten Hürden für die Wiederaufnahme eines Verfahrens kritisiert. Die Gerichte hätten im vorliegenden Fall „Unmögliches” verlangt, stellten die Karlsruher Richter fest. Für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens dürften vom Antragsteller aber keine „unerfüllbaren und unzumutbaren” Nachweise verlangt werden, so der Senat, der damit – jedenfalls teilweise – der Verfassungsbeschwerde einer Antragstellerin stattgab (BVerfG, Beschl. v. 4.12.2023 – 2 BvR 1699/22).
Hintergrund der Entscheidung war ein Verfahren um Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen eine wegen Mordes an ihrem Ehemann rechtskräftig verurteilte Frau, die versuchte, eine Neuaufnahme des Prozesses wegen möglicher Befangenheit des Vorsitzenden zu erwirken. Letzterer hatte bereits an der Verurteilung eines mutmaßlichen Mittäters als Berichterstatter mitgewirkt. Doch sowohl das angerufene Landgericht als auch später das Oberlandesgericht Frankfurt a.M. hatten die Wiederaufnahme verweigert, obwohl inzwischen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Sache eine Verletzung von Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgestellt hatte. Der EGMR führte in seiner Entscheidung aus, dass es zwar keine Anzeichen dafür gebe, dass der betreffende Richter tatsächlich persönlich voreingenommen gewesen war. Dennoch seien die Zweifel an der Unparteilichkeit allein aufgrund objektiver Kriterien gerechtfertigt; denn in dem Mordurteil gegen die Beschwerdeführerin seien Tatsachenfeststellungen getroffen worden, obwohl es angemessen gewesen wäre, sie als Vermutungen darzustellen.
Die klare Feststellung eines Konventionsverstoßes durch das EGMR beeindruckte die Richter am LG und später am OLG allerdings offenbar nicht. Sie lehnten die Wiederaufnahme des Strafverfahrens mit der Begründung ab, dass nach dem Gesetzeswortlaut des § 359 Nr. 6 StPO für eine Wiederaufnahme das Urteil auf dem Konventionsverstoß „beruhen” müsse. Es sei deshalb Aufgabe der Beschwerdeführerin, Anhaltspunkte dafür darzulegen, dass sich der Konventionsverstoß auf die Verurteilung ausgewirkt haben könnte und ihre Verurteilung bei Beachtung der verletzten Konventionsnorm möglicherweise anders ausgefallen wäre. Zudem habe der EGMR festgestellt, dass von der persönlichen Unparteilichkeit des Richters auszugehen sei. Auch vor diesem Hintergrund habe Vortrag dazu erfolgen müssen, aufgrund welcher Umstände davon auszugehen sei, dass das Urteil auf dem festgestellten Konventionsverstoß beruhe.
Zu dieser Argumentation stellte das BVerfG kurz und knapp fest, dass hiermit offensichtlich „Unmögliches” von der Antragstellerin erwartet werde. Denn die Anforderungen, die das LG und das OLG aufgestellt hätten, liefen darauf hinaus, darzulegen, dass sich im Strafurteil gegen sie Anhaltspunkte für eine Begründung der Besorgnis der Befangenheit finden. Wenn aber bereits der Menschenrechtsgerichtshof festgestellt habe, dass darin keine Anhaltspunkte für die Befangenheit des betreffenden Richters vorlägen, könne man nun nicht die Darlegung des Gegenteils verlangen. Jedenfalls sei eine solche Darlegung unzumutbar. Zudem hätten die Strafgerichte die Entscheidung des EGMR rechtlich falsch bewertet. Der von den Europarichtern festgestellte Konventionsverstoß liege gerade nicht darin, dass (möglicherweise) ein tatsächlich voreingenommener Richter an dem gegen die Beschwerdeführerin geführten Verfahren und an der gegen sie ergangenen Entscheidung beteiligt war, sondern darin, dass ein Richter mitgewirkt habe, bezüglich dessen Unvoreingenommenheit bei objektiver Betrachtung aus Sicht der Beschwerdeführerin gerechtfertigte Zweifel bestanden hätten. Dieser Konventionsverstoß wirke sich bereits in der Mitwirkung dieses Richters im gegen die Beschwerdeführerin geführten Verfahren als solcher aus; es sei deshalb gar nicht erforderlich, dass eine etwaige Voreingenommenheit in der Entscheidung ihren Niederschlag gefunden habe.
Die Strafgerichte hätten somit den Zugang zu einer erneuten Hauptverhandlung in einer Weise erschwert, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen sei, so die deutlichen Worte der Verfassungsrichter.
[Quelle: BVerfG]