Für die Auslegung von letztwilligen Verfügungen gilt nach der Rechtsprechung der Grundsatz, dass zur Feststellung des Erblasserwillens neben der Erklärung des Erblassers als Ausgangspunkt sämtliche außerhalb der Urkunde liegenden Umstände (z.B. sonstige Urkunden, äußere Gestaltung der Erklärungen, Lebens- und Vermögensverhältnisse des Testators, verwandtschaftliche Verhältnisse, Beziehungen der Beteiligten zueinander) heranzuzuziehen sind. Gemäß § 133 BGB ist daher bei der Auslegung nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Eine Beschränkung der Analyse auf den Wortlaut wäre unzureichend. Daher sind alle außerhalb der Testamentsurkunde erkennbaren sog. Nebenumstände bei der Erforschung des wirklichen Willens des Erblassers in einer Gesamtschau zu berücksichtigen. Die Ermittlung des Erblasserwillens hat also auch Vorrang vor dem Wortlaut des Testaments mit angeblich "klarem und eindeutigem" Inhalt. Dies soll insbesondere dann gelten, wenn der Erklärende mit seinen Worten einen anderen Sinn verbunden hat, als es dem allgemeinen Sprachgebrauch entspricht. Denn der Sprachgebrauch kann nicht immer so treffend sein, dass der Erblasser mit seiner Diktion genau das erklärt, was er zum Ausdruck bringen will (vgl. BGH NJW 1981, 1736; 1982, 672; BayObLG FamRZ 2002, 1746; OLG Hamm FGPrax 2014, 264).
Mit dieser umfassenden Ermittlung aller Gesamtumstände schon bei der sog. erläuternden Testamentsauslegung, die sich mit der "ergänzenden Auslegung" überschneiden kann, erhalten die Nachlassgerichte die Instrumentarien, dem Erblasserwillen bestmöglich gerecht zu werden, auch wenn dieser oft nur unzureichend in der Testamentsurkunde zum Ausdruck kommt bzw. "Anklang" findet. Die mögliche Auslegung des Testamentstextes und die Berücksichtigung erreichbarer Begleitumstände können u.a. folgende einleitenden wie im weiteren entscheidungserheblichen Fragen auslösen:
Wollte der Verfasser überhaupt ein Testament errichten (Testierwille)?
Beispiele:
- Erklärungen des Erblassers in einem Notizbuch können grundsätzlich die Formerfordernisse an ein privatschriftliches Testament nach § 2247 BGB erfüllen. Durch Auslegung von Umständen außerhalb des Schriftstücks ist aber zu ermitteln, ob wirklich ein ernsthafter Testierwille vorlag (im Ergebnis verneint von BayObLG ZEV 2000, 365; im Einzelfall bejaht vom OLG Schleswig FamRZ 2010, 65).
- Es muss außer Zweifel stehen, dass der Erblasser eine verbindliche letztwillige Verfügung verfassen wollte, was u.a. in der "Erklärung" "auch wenn du mich nicht reinlässt sollst du wissen das J. nicht nur das Haus auch mein Vermögen erben soll. Ich brauch das Geld bis Mai 1999" auf einer einfachen Ablichtung einer notariellen Urkunde nicht anzunehmen sein kann (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.7.2014 – I-3 Wx 95/13; OLG Düsseldorf ZEV 2015, 64 [LS]).
Korrespondieren die verwendeten juristischen Fachtermini wirklich mit dem Willen des Erblassers?
Beispiel:
- Der Erblasser, der mehrere Verfügungen errichtet hatte, bedenkt 38 Personen mit verschiedenen Geldbeträgen, die den gesamten Nachlass ausmachen oder der Erblasser "vermacht" einer bestimmten Person sein wesentliches Grundvermögen und anderen sein Bankguthaben von geringem Wert. Hier ist im Wege der Auslegung eine Abgrenzung von Vermächtnis und Erbeinsetzung vorzunehmen, wobei bestimmte Rechtsbegriffe ("Erbe", "Vermächtnis") in der Testamentsurkunde selbst nicht auf den wahren Erblasserwillen schließen lassen müssen (ausführlich zu den Kriterien der Abgrenzung BayObLG FamRZ 2002, 1745).
Entsprechen die vom Erblasser benutzten Worte dem allgemein üblichen Sprachgebrauch?
Beispiel:
- Der Erblasser bestimmt im Testament: "Mutter bekommt meine alte Plattensammlung." Mit "Mutter" meint er aufgrund des besonderen Sprachgebrauchs in seinem Umfeld nicht seine Mutter, sondern seine Ehefrau. Wenn diese besondere Wortwahl durch entsprechenden Anhaltspunkt zu belegen ist, so ist das Testament zugunsten der Ehefrau des Erblassers auszulegen (vgl. hierzu entsprechend das Beispiel bei Olzen, Erbrecht, 4. Aufl. 2013, S. 184).