Auslegung von handschriftlichen Streichungen im Testament
Nach einer Entscheidung des OLG München sind nachträglich vorgenommene handschriftliche Änderungen und Streichungen an einem privatschriftlich errichteten Testament wirksam, wenn keine ernsthaften Zweifel daran bestehen, dass diese vom Erblasser selbst stammen.
Testament komplett durchgestrichen
In dem vom OLG entschiedenen Verfahren hatte die Erblasserin etwas mehr als 6 Monate vor ihrem Tod ein handschriftliches Testament errichtet, in dem sie ihren Lebensgefährten als alleinigen Erben einsetzte. Ihre beiden Brüder enterbte sie ausdrücklich. Über die 3 Seiten des Testaments waren die verschiedenen Textpassagen handschriftlich durch schräg verlaufende Striche in der Weise durchgestrichen, dass im Ergebnis der gesamte Text des Testamentes durchgestrichen war.
Nachlassgericht holte Schriftgutachten ein
Auf Antrag des ehemaligen Lebensgefährten auf Erteilung eines Erbscheins, der ihn als Alleinerben ausweisen sollte, teilte das Nachlassgericht per Beschluss mit, den Erbschein antragsgemäß erteilen zu wollen. Das Gericht hatte zuvor ein Sachverständigengutachten zu der Frage eingeholt, ob die handschriftlich angebrachten Streichungen mit hoher Wahrscheinlichkeit schon zu Lebzeiten der Erblasserin angebracht worden waren oder erst nach deren Tod. Im letzten Fall hätte die Erblasserin als Urheberin der Streichungen ausgeschlossen werden können.
Nachlassgericht wollte Beweislastentscheidung treffen
Nachdem das Sachverständigengutachten die Beweisfrage nicht eindeutig beantworten konnte, kündigte das Nachlassgericht durch Beschluss seine Absicht an, den beantragten Erbschein zu erteilen. Begründung: Da das Sachverständigengutachten keinen Aufschluss über den Zeitpunkt der Durchstreichungen ergeben habe, verblieben ernsthafte Zweifel, ob die Durchstreichungen von der Erblasserin oder einer dritten Person vorgenommen worden seien. Diese Zweifel gingen zulasten der Brüder der Erblasserin, die nicht hätten beweisen können, dass die Erblasserin ihre ursprüngliche letztwillige Verfügung eigenhändig widerrufen habe.
Nachlassgericht half der Beschwerde der Brüder nicht ab
Gegen diesen Beschluss legten die Brüder der Erblasserin Beschwerde ein. Das Nachlassgericht half der Beschwerde nicht ab und legte die Gerichtsakten – nach einem zweiten Nichtabhilfebeschluss – dem OLG zur Entscheidung vor.
Beschwerde beim OLG erfolgreich
Das OLG gab der Beschwerde statt. Nach Auffassung des OLG bestanden keine ernsthaften Zweifel daran, dass die Erblasserin das Testament ca. ein halbes Jahr vor ihrem Tod formwirksam errichtet hatte. Ebenso war der Senat davon überzeugt, dass die schräg jeweils über die 3 Blätter angebrachten Durchstreichungen, die den gesamten Text erfassten, von der Erblasserin selbst stammten.
Beweislastregeln für wirksamen Widerruf des Testaments
Das OLG stellte klar, dass
- derjenige die Feststellungslast für eine wirksame Widerrufshandlung des Erblassers im Widerrufsabsicht trägt, der sich darauf beruft (BayObLG, Beschluss v. 22.7.1983, 1 Z 49/83).
- Die Anforderungen an diesen Beweis sind nach Auffassung des Senats aber nicht hoch anzusetzen, wenn keine ernsthaften Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Veränderungen der Urkunde von Dritten vorgenommen worden sind.
- Letzteres sei immer dann der Fall, wenn unter Berücksichtigung der Gesamtumstände nicht davon auszugehen ist, dass das Testament dem ungestörten Zugriff Dritter ausgesetzt war.
Keine realen Zugriffsmöglichkeiten Dritter auf das Testament
Im konkreten Fall ging der Senat davon aus, dass sich das Testament bis zum Tode der Erblasserin in deren alleinigem Besitz befand. Diese habe das Testament zwischen diversen Zeitschriften, Kontoauszügen und Katalogen aufbewahrt. In der letzten Phase ihres Lebens habe die Erblasserin nur wenig soziale Kontakte gehabt und ständig auf der Couch ihres Wohnzimmers gelegen. Von ihren Brüdern, die ein wirtschaftliches Interesse an dem Widerruf der letztwilligen Verfügung hätten haben können, sei die Erblasserin seit Jahren nicht besucht worden, sodass deren Urheberschaft für die Streichungen bei realistischer Einschätzung nicht in Betracht komme.
Streichungen von Erblasserin willentlich angebracht
Der Senat kam daher zu dem Ergebnis, dass die Veränderungen an dem Testament nicht durch Dritte, sondern durch die Erblasserin selbst vorgenommen worden waren. Gemäß § 2255 Satz 2 BGB sei daher zu vermuten, dass die Erblasserin die Streichungen in der Absicht des Widerrufs der ursprünglichen Erbeinsetzung ihres ehemaligen Lebensgefährten vorgenommen habe. Es lasse sich auch nicht feststellen, dass die Erblasserin die Absicht gehabt hätte, das durchgestrichen Testament fortgelten zu lassen, bis sie ein mögliches neues Testament errichtet hätte. Hierfür fehlten jegliche Anknüpfungstatsachen.
Kein Erbschein für ehemaligen Lebensgefährten
Damit ist nach der Entscheidung des OLG der Antrag des ehemaligen Lebensgefährten der Erblasserin auf Erteilung eines auf ihn lautenden Erbscheins zurückzuweisen. Die Beschwerde der Brüder war erfolgreich.
(OLG München, Beschluss v. 13.10.2023, 33 Wx 7323e)
Hintergrund:
Gemäß § 2255 Satz 1 BGB kann ein Testament dadurch widerrufen werden, dass der Erblasser die Testamentsurkunde vernichtet oder an ihr Veränderungen vornimmt, die seine Absicht erkennen lassen, das Testament aufzuheben. Diese Aufhebungsabsicht wird gemäß § 2255 Satz 2 BGB bei Vernichtung bzw. für den Fall einer entsprechenden nachträglichen Änderung des Testaments vermutet. Das OLG München hat in seiner Entscheidung quer über den Testamentstext verlaufende Durchstreichungen als Widerruf im Sinne dieser Vorschrift gewertet.
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