Für die im Fall des BGH entscheidungserhebliche Frage, ob den Prozessbevollmächtigten des Klägers für deren vorprozessuale Tätigkeit eine Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG angefallen ist, kommt es zunächst einmal nicht auf die Anwaltstätigkeit an. Die nach außen hin erkennbare Tätigkeit der Rechtsanwälte, hier also die vorprozessuale Zahlungsaufforderung v. 13.11.2018, lässt nämlich nicht darauf schließen, ob den Anwälten ein Vertretungsauftrag erteilt worden ist, was zum Anfall der Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG führt, oder ob die Anwälte diese Tätigkeit im Rahmen eines ihnen bereits erteilten (unbedingten) Klageauftrags ausgeübt haben. Im letzteren Fall würde die Zahlungsaufforderung eine zum Rechtszug gehörende Vorbereitungshandlung nach § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 RVG darstellen und mit der für die Prozessvertretung angefallenen Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG abgegolten sein.
a) Inhalt des Auftrags ist maßgeblich
Wie diese in beiden Fällen nach außen hin identische Tätigkeit der Rechtsanwälte – die vorprozessuale Zahlungsaufforderung v. 13.11.2018 – gebührenrechtlich einzuordnen ist, richtet sich – worauf der BGH zutreffend hingewiesen hat – nach dem den Anwälten im konkreten Fall erteilten Auftrag (so bereits BGH, Urt. v. 19.10.1967 – VII ZR 324/64, BGHZ 48, 334; BGH, Urt. v. 1.10.1968 – VI ZR 159/67, NJW 1968, 2334 jeweils zum Anfall der Geschäftsgebühr nach § 118 BRAGO; BGH, Urt. v. 26.2.2013 – XI ZR 345/10, zfsâEUR™2013, 406 m. Anm. Hansens, RVGreport 2013, 310 [Hansens], AGS 2013, 252 m. Anm. N. Schneider für dieâEUR™Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG). Dabei kann ein die Geschäftsgebühr auslösender Vertretungsauftrag auf folgende Weise erteilt werden:
aa) Vertretungsauftrag
Entweder erteilt der Mandant seinem Rechtsanwalt nur den Auftrag, den Gegner durch außergerichtliche Bemühungen zur Zahlung zu veranlassen. Dann löst das Betreiben des Geschäfts (s. Vorbem. 2.3 Abs. 3 VV RVG) die Geschäftsgebühr Nr. 2300 VV RVG mit einem Gebührenrahmen von 0,5 bis 2,5 aus. Der beschränkte Gebührenrahmen der Geschäftsgebühr nach Abs. 2 der Anm. zu Nr. 2300 VV RVG von 0,5 bis 1,3 kam hier schon deshalb nicht in Betracht, weil der Kläger seinen Rechtsanwälten den Auftrag vor Einführung dieser Vorschrift erteilt hatte. Außerdem war Gegenstand der Anwaltstätigkeit auch keine Inkassodienstleistung, die eine unbestrittene Forderung betroffen hat.
Die Vorschrift des § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 RVG, wonach die Vorbereitung der Klage und damit auch ein vorprozessuales Aufforderungsschreiben zum Rechtszug gehört und daher durch die Verfahrensgebühr Nr. 3100 VV RVG abgegolten wird, greift in einem solchen Fall nicht ein. In dieser Fallgestaltung ist dem Anwalt jedenfalls zum Zeitpunkt der Zahlungsaufforderung (noch) kein die Verfahrensgebühr auslösender Prozessauftrag erteilt worden.
bb) Vertretungsauftrag und bedingter Prozessauftrag
Oder der Mandant erteilt seinem Rechtsanwalt von vornherein zwei Aufträge, nämlich einen Auftrag zur außergerichtlichen Vertretung und einen aufschiebend bedingten Prozessauftrag, dessen Bedingung erst eintritt, wenn die vorgerichtliche Tätigkeit des Anwalts nicht zu dem gewünschten Erfolg führt. Auch in diesem Fall kommt der vorerwähnte § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 RVG nicht zur Anwendung. Dem Anwalt ist zwar zum Zeitpunkt des Aufforderungsschreibens auch ein Prozessauftrag erteilt worden. Dieser stand jedoch unter der Bedingung (s. § 158 Abs. 1 BGB), dass die vorgerichtlichen Bemühungen des Rechtsanwalts keinen Erfolg gehabt haben. Dies stellt sich jedoch erst später und damit zu einem Zeitpunkt heraus, zu welchem dem Rechtsanwalt für das Betreiben des Geschäfts, also u.a. für die Entgegennahme der Informationen des Mandanten, für dessen Beratung und für die Fertigung des Aufforderungsschreibens an den Gegner, längst die Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG angefallen ist. Folglich steht ein solcher bedingter Prozessauftrag dem Anfall der Geschäftsgebühr nicht entgegen (BGH, Urt. v. 22.6.2021 – VI ZR 353/20, zfs 2021, 522 mit Anm. Hansens, AGS 2022, 16 [Hansens], JurBüro 2021, 478; BGH, Urt. v. 19.10.1967 – VII ZR 324/64, BGHZ 48, 334; BGH, Urt. v. 1.10.1968 – VI ZR 159/67, NJW 1968, 2334; BGH, Urt. v. 26.2.2013 – XI ZR 345/10, zfs 2013, 406 m. Anm. Hansens, RVGreport 2013, 310 (Hansens), AGS 2013, 252 m. Anm. N. Schneider; OLG Celle, Urt. v. 25.10.2007 – 13 U 146/07, AGS 2008, 161, JurBüro 2008, 319).
b) Indizwirkung des Aufforderungsschreibens
Im Fall des BGH hatten die Prozessbevollmächtiget in ihrer Zahlungsaufforderung vom 13.11.2018 u.a. ausgeführt, dass Klage erhoben werde, falls innerhalb der gesetzten Frist keine Zahlung oder kein angemessenes Vergleichsangebot eingehe. Das OLG Karlsruhe hatte dies als Indiz gegen die Behauptung angesehen, den Rechtsanwälten des Klägers sei zunächst nur ein Mandat zur außergerichtlichen Vertretung oder nur ein bedingter Prozessauftrag erteilt worden. Der BGH hat diese Würdigung als rechtsfehlerfrei angesehen.
Ob dies richtig ist, ist fraglich. Zum einen kann aus einer Klageandrohung nicht zwingend gefolgert werden, dass dieser auch ein entsprechender – unbedingter – Prozessauftrag zugrunde liegt. Zum zweit...