Für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ist der Zugang zu aktuellen Gerichtsentscheidungen sehr wichtig, um ihre Mandanten richtig beraten zu können, aber auch, um Haftungsrisiken zu vermeiden.
In vielen Verfahren sind die Entscheidungsgründe nicht nur im Einzelfall von Interesse, sondern betreffen eine Vielzahl von Fällen. Doch für viele Rechtsanwälte ist es schwierig, an Gerichtsentscheidungen zu kommen, oftmals blockiert die Gerichtsverwaltung den Zugang auch zu anonymisierten Entscheidungen, insb. mit dem Argument der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen – und das obwohl bei einer ordentlichen Anonymisierung keine Namen genannt und oftmals auch zutreffende Verfremdungen des Sachverhalts vorgenommen werden.
Auch für die Medien sind Gerichtsentscheidungen von hohem Interesse, wie gerade die Auseinandersetzung des Ehemanns der Bundesfamilienministerin mit dem Verwaltungsgericht Berlin gezeigt hat. Karsten Giffey hatte versucht, die Veröffentlichung des Urteils zu verhindern, in dem das VG Berlin entschieden hatte, dass er als Beamter aus dem öffentlichen Dienst wegen Arbeitszeit- und Reisekostenbetrugs entfernt wird. Mit klaren Worten hat das VG Berlin (Beschl. v. 27.2.2020 – 27 L 43/20) dieses Ansinnen zu Recht abgelehnt.
Die Entscheidung betrifft zwar nur den Zugang der Medien zu der Gerichtsentscheidung, das VG Berlin verweist aber auch auf einen vielen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten nicht bekannten Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 5.4.2017 (IV AR [VZ] 2/16).
Der Leitsatz dieses Beschlusses soll noch einmal mitgeteilt werden:
Zitat
In Zivilsachen kann der Gerichtsvorstand am Verfahren nicht beteiligten Dritten regelmäßig anonymisierte Abschriften von Urteilen und Beschlüssen erteilen, ohne dass dies den Anforderungen an die Gewährung von Akteneinsicht gem. § 299 Abs. 2 ZPO unterliegt.
Der BGH begründet dies mit der öffentlichen Aufgabe der Gerichte, Gerichtsentscheidungen zu veröffentlichen. Fast schon gebetsmühlenartig wiederholen die Gerichte die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 14.9.2015 – 1 BvR 857/15, NJW 2015, 3708) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urt. v. 26.2.1997 – 6 C 3/96, BVerwGE 104, 105), die (auszugsweise) ausgeführt haben:
Zitat
Aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht, dem Demokratiegebot und dem Grundsatz der Gewaltenteilung folgt grds. eine Rechtspflicht der Gerichtsverwaltung zur Publikationsveröffentlichung würdiger Gerichtsentscheidungen. ... Der Bürger muss zumal in einer zunehmend komplexen Rechtsordnung zuverlässig in Erfahrung bringen können, welche Rechte er hat und welche Pflichten ihm obliegen; die Möglichkeiten und Aussichten eines Individualrechtsschutzes müssen für ihn annähernd vorhersehbar sein. Ohne ausreichende Publizität der Rechtsprechung ist dies nicht möglich.
Der BGH wie auch die beiden anderen obersten Gerichte BVerfG und BVerwG stellen klar, dass es zur Begründung der Pflicht der Gerichte, der Öffentlichkeit ihre Entscheidungen zugänglich zu machen und zur Kenntnis zu geben, bei der klaren Verfassungslage keiner speziellen gesetzlichen Rechtsgrundlage bedarf. Und der BGH stellt auch in aller Deutlichkeit noch einmal klar, dass es bei der Veröffentlichung von Entscheidungen der Gerichte nicht davon abhängt, ob nach Ansicht des betreffenden Gerichts diese Entscheidung der Veröffentlichung würdig ist, sondern dass es allein auf das Interesse der Dritten ankommt. Besonders anschaulich ist der Fall des BGH deswegen, weil eine Bank hier versucht hatte, die Veröffentlichung einer für sie negativen Entscheidung zu verhindern, die Leitcharakter hatte. Das aber darf in einem Rechtsstaat auch unter dem Aspekt der Waffengleichheit nicht passieren.
Es mag umstritten sein, ob dieser Beschluss des BGH auch für Strafsachen gilt, aus der Entscheidung des BVerfG (a.a.O.), die zu einem Strafverfahren erging, lässt sich dagegen eindeutig herleiten, dass es einen Anspruch auch der Rechtsanwältin und des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege mit der besonderen Stellung gibt, Entscheidungen anonymisiert zu erhalten.
Der BGH stellt zudem klar, dass es die Aufgabe der Justizverwaltung und nicht des einzelnen Richters, der einzelnen Kammer oder des einzelnen Senats ist zu entscheiden, ob eine Entscheidung veröffentlicht wird oder nicht. Die Verwaltung hat hier für eine Gleichbehandlung zu sorgen.
Für die Rechtsanwältin/den Rechtsanwalt bedeutet dies: Erfahren Sie von einer Gerichtsentscheidung, die für ein Mandat oder allgemein von Interesse ist, so ist diese Entscheidung direkt bei der Justizverwaltung anzufordern und um eine Übersendung einer anonymisierten Kopie zu bitten. Dies allerdings erst dann, wenn man sich vorher vergewissert hat, dass die Entscheidung nicht bereits in den einschlägigen Datenbanken – die zum Teil auch tagesaktuell eingestellt werden – vorhanden ist. Nicht nur die obersten Bundesgerichte sind hier mitunter sehr schnell, sondern auch offene Datenbanken der Länder (z.B...