Die Olympische Flamme ist erloschen, doch die juristischen Auseinandersetzungen bezüglich der 24. Winterspiele in Peking 2022 gehen weiter. Der weltweit wohl am meisten beachtete Fall wird derâEUR™der Eiskunstläuferin Kamila Walijewa sein. Die 15-jährige Russin war anlässlich der nationalen Meisterschaften von der russischen Anti-Doping Agentur auf eine verschwindend geringe Menge eines verbotenen Stoffwechselmodulators positiv getestet worden, was nach dem Regelwerk zwingend zu einer sofortigen vorläufigen Suspendierung führt. Problematisch: Das Testergebnis wurde erst bekannt, nachdem die Sportlerin bei einem olympischen Wettbewerb gestartet war, und die Einzelkonkurrenz stand noch bevor. Das schwedische Dopingkontroll-Labor (das russische ist suspendiert) hatte sich für die Analyse 45 Tage Zeit gelassen. Im entsprechenden internationalen Standard für Laboratorien sind 20 Tage als Soll definiert, wobei 45 Tage keine unüblich lange Zeit sind.
Die Konstellation ist selbst für eingefleischte Sportjuristen nur nach einigen Überlegungen zu erfassen, weshalb Journalisten in ihrer Darstellung manchmal etwas daneben lagen. Es stellt sich die Frage nach der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit für die Aufhebung der Sperre (national), für die Wiedereinsetzung der Sperre (international/IOC) und die finale Sanktion (national und international). Es stellt sich außerdem die Frage nach den materiellen Besonderheiten, immerhin ist die Sportlerin minderjährig. Sie hat damit den Status als "schützenswerte Person" i.S.d. Welt Anti-Doping Codes.
Da es sich um einen nationalen Test handelt, lagâEUR™und liegt die Zuständigkeit bei der russischen Disziplinareinrichtung, die die vorläufige Sperre verhängt und nach einer Anhörung wieder aufgehoben hatte. Das internationale Sportschiedsgericht kam nur deshalb ins Spiel, weil es inzwischen um die Teilnahme an einem olympischen Wettbewerb ging. Das Gremium der internationalen ad-hoc Schiedsrichter in Peking erlaubte Walijewa (zu Recht) die Teilnahme – der Rest ist unrühmliche Geschichte.
Damit ist die Sache für das IOC erledigt. Der Ball liegt nun weiterhin in Russland, wo der Fall verhandelt und entschieden wird. Wie auch immerâEUR™die Entscheidung ausfällt, gegen sie kann vor dem Internationalen Sportschiedsgericht CAS in Lausanne in Berufung gegangen werden. So weit, so gut. Was aber macht den Fall so einzigartig? Die Augen der Welt haben schon andere Sportler:innen am Druck zerbrechen oder in die wettbewerbliche Bedeutungslosigkeit fallen sehen. Die Empörung darüber, dass Erfolgstrainer:innen inâEUR™Einzeldisziplinen bei Niederlagen keine tröstenden Worte finden und auch sonst nicht mütter- oder väterlich agieren, ist geheuchelt. Wer den Leistungssport kennt weiß, dass nur Fleiß und Härte belohnt werden. Minderjährige bei Olympischen Spielen? Nicht das erste Mal. Es gab auch schon jüngere Teilnehmerinnen als Walijewa.
Und dennoch: Hier wurde ein System sichtbar. Ein System, von dem viele gehofft hatten, dass es nach dem Ende des kalten Krieges, der auch in den Sportstätten ausgetragen wurde, der Systembewertungen anhand von Medaillenspiegeln vornahm, dass dieses System verschwunden ist. Dass die gesellschaftliche wie sportliche Weiterentwicklung ein Bewusstsein geschaffen hat für einen Sport, bei dem Athlet:innen nicht für den Erfolg einer wie auch immer gearteten politischen Macht missbraucht werden. Naiv!
Wie in solchen Fällen üblich, wird von einem Einzelfall gesprochen. Wie in solchen Fällen üblich, ist irgendetwas irgendwie aus Versehen in den Körper der Sportlerin gelangt – in unserem Fall das Herzmedikament des Opas, welches er imâEUR™Auto mitzuführen pflegt, wenn er das Kind zum Training fährt oder von dort abholt. Die geringe nachgewiesene Menge könne auf eine versehentliche Anwendung hinweisen, sagen Experten. Vielleicht aber auch darauf, dass die "washing-out"-Phase länger gedauert hat, als berechnet. Der nachgewiesene Wirkstoff sei für Minderjährige nicht zugelassen und zudem gefährlich, sagen Experten. Er verstärkt die Glukoseoxidation, optimiert also die Energieprozesse in der Zelle und vermehrt die Gesamtbelastungsdauer, sagt der Hersteller.
Einzelfall, Versehen, systematisches Vorgehen? Beides scheint denkbar, wenn man den Vorfall im Gesamten betrachtet. Wenn man die "Karrieren" der anderen "verschlissenen" minderjährigen Eiskunstläuferinnen Russlands kennt. Wenn man sich daran erinnert, dass im russischen Sport ein flächendeckendes staatlich unterstütztes Dopingprogramm aufgedeckt wurde, für das Russland von der Bühne des Weltsports bis Ende dieses Jahres ausgeschlossen ist und seine Sportler:innen daher u.a. internationalen Klängen stattâEUR™der eigenen Hymne lauschen, wenn sie Gold gewonnen haben.
Wir werden die Wahrheit nie erfahren. Als Jurist kann man mit den Regelwerken arbeiten, die einem zur Verfügung stehen und einen Fall entscheiden. Der birgt konkret noch einige Hürden, da der Welt Anti-Doping Code jedenfalls weder für das Verfahren selbst noch im Hinblick...