Die Bundesregierung will angesichts des schon jetzt drückenden Fachkräftemangels kompetente Arbeitskräfte unabhängig von ihrem Bildungsabschluss besser in den Arbeitsmarkt bringen. Dazu hat sie kürzlich einen Gesetzentwurf für ein Berufsbildungsvalidierungs- und digitalisierungsgesetz (BVaDiG) vorgelegt (vgl. BT-Drucks 20/10857). Damit verfolgt sie das Ziel, Kenntnisse und Fähigkeiten von Arbeitnehmern, die unabhängig von einem formalen Berufsausbildungsabschluss erworben wurden, festzustellen, zu bescheinigen und im System der beruflichen Bildung „anschlussfähig zu machen”.
Das duale Ausbildungssystem in Deutschland stehe unter Druck, schreibt die Bundesregierung in der Begründung des Gesetzentwurfs. Im Zuge der Corona-Pandemie habe der Ausbildungsmarkt erhebliche Einbußen verkraften müssen. Die Folge sei ein deutliches Schrumpfen des dualen Ausbildungssystems im Gesamten. Von diesen Entwicklungen habe sich der Ausbildungsmarkt bisher nicht erholen können. Für die Umsetzung der Energie- und Mobilitätswende in Deutschland sowie für die Gestaltung von sozialer, digitaler und ökologischer Transformation seien beruflich qualifizierte Fachkräfte jedoch unabdingbar. Allerdings könne das Angebot an qualifizierten Fachkräften in immer mehr Berufen die Nachfrage nicht mehr decken. Dabei seien die größten Fachkräfteengpässe auch in den Berufen zu erwarten, die für die digitale und ökologische Transformation dringend benötigt würden, etwa in IT-Berufen, dem Baugewerbe und in technischen Berufen.
Um auch in Zeiten großer Fachkräfteengpässe alle vorhandenen Potenziale aktivieren zu können, will die Regierung ein „Verfahren zur Feststellung und Bescheinigung individuell erworbener beruflicher Handlungsfähigkeit” einführen, das „substanzielle berufliche Kompetenzen” auch unabhängig von einem formalen Berufsausbildungsabschluss ausweisen könnte. Dieses soll nicht nur den Ausweis einer „vollständigen”, sondern auch einer „überwiegenden” Vergleichbarkeit der individuellen beruflichen Handlungsfähigkeit des betreffenden Arbeitsplatzbewerbers am Maßstab eines anerkannten Ausbildungsberufs ermöglichen. Dazu sollen verschiedene „Feststellungsinstrumente” eingeführt werden, die an die jeweilige Prüfungsordnung angelehnt, aber zielgruppenorientiert modifiziert werden sollen, z.B. durch Entfall der schriftlichen Prüfung oder die Möglichkeit, bereits vorliegende Arbeitsergebnisse in die Feststellung einzubeziehen.
Der Bundesrat hat inzwischen Nachbesserungen an dem Vorhaben gefordert. Er sieht u.a. die Gefahr, dass sich das neue Feststellungsverfahren zu einer vermeintlich attraktiven Alternative zur dualen Berufsausbildung entwickeln könnte, wenn junge Menschen, die fortan vor der Wahl zwischen einer formalen Berufsausbildung und einer Erwerbstätigkeit stehen, sich für die Erwerbstätigkeit als vermeintlich einfacheren Weg zur „Fachkraft” entscheiden. Gerade für Jugendliche, die bisher negative Lernerfahrungen im allgemeinbildenden Schulwesen gesammelt hätten, aber auch für zugewanderte junge Menschen könnte – so die Länderkammer – hier ein Fehlanreiz entstehen, da der zweite Lernort Berufsschule umgangen werde und damit deren bildungspolitischer Beitrag ausfiele. Als Gegenmaßnahme fordert der Bundesrat deshalb u.a. eine Untergrenze von 25 Jahren für die Bewerber um die alternative Kompetenzbescheinigung sowie auch eine Anhebung der Dauer einer anrechenbaren Erwerbstätigkeit.
Diesen Forderungen des Bundesrats hat sich auch die Bundesrechtsanwaltskammer, speziell mit Blick auf die ReNoPat-Ausbildung, angeschlossen. Verdrängungseffekte bei der beruflichen Erstausbildung müssten unbedingt vermieden werden, schreibt die BRAK in ihrer offiziellen Stellungnahme zum Gesetzentwurf. Dazu könnten eine Mindestaltersgrenze von 25 Jahren und eine Verlängerung der geforderten Berufserfahrung beitragen. Nach Auffassung der Kammer käme bei der ReNoPat-Ausbildung auch lediglich eine teilweise Validierung der beruflichen Handlungsfähigkeit von Quereinsteigern in Betracht. Eine vollständige Validierung könne hingegen zu einer erheblichen Schwächung der dualen Berufsausbildung führen. Denn die klassische Ausbildung stelle erhebliche Herausforderungen an die Auszubildenden, wie etwa geringe Vergütung, lange Fahrzeiten zum Ausbildungsort und zur Berufsschule, doppelte Belastungen durch Arbeit und Lernen und nicht zuletzt die Teilnahme an einer anspruchsvollen Abschlussprüfung. Diese „Nachteile” durch eine Gleichstellung des Berufsabschlusses mit einer Bescheinigung auf individuelle berufliche Handlungsfähigkeit zu umgehen, würde die Motivation, die Strapazen einer Berufsausbildung auf sich zu nehmen, deutlich verringern, gibt die BRAK zu bedenken.
[Quellen: Bundesregierung/BRAK]