Fachkräftemangel erreicht Rekordniveau
Trotz der relativ schwachen Wirtschaftsentwicklung hat der Fachkräftemangel im Jahr 2022 einen Höchststand erreicht. Rechnerisch hätten im vergangenen Jahr mehr als 630.000 offene Stellen für Fachkräfte nicht besetzt werden können, weil bundesweit keine entsprechend qualifizierten Arbeitslosen zur Verfügung standen, berichtete das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (Kofa) des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Dies sei die größte Fachkräftelücke seit Beginn des Beobachtungszeitraums im Jahr 2010.
Fachkräftemangel hat sich in manchen Branchen fast verdreifacht
Besonders ausgeprägt waren die Engpässe der Untersuchung zufolge im Bereich Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung, sowie im Bereich Bau, Architektur Vermessung und Gebäudetechnik, wo rechnerisch sechs von zehn offenen Stellen nicht besetzt werden konnten. Überdurchschnittlich hoch war der Fachkräftemangel aber auch in den Sparten Naturwissenschaft, Geografie und Informatik. (Lesen Sie auch: Mehr als 300.000 MINT-Kräfte fehlen).
Fast verdreifacht hat sich im vergangenen Jahr der Fachkräfteengpass im Berufsbereich Kaufmännische Dienstleistungen, Warenhandel, Vertrieb, Hotel und Tourismus. Hier konnten im Jahr 2022 rechnerisch gut drei von zehn offenen Stellen nicht besetzt werden. Der starke Anstieg in diesem Bereich sei allerdings auch durch einen Aufholeffekt nach dem starken Einbruch im Zuge der Corona-Pandemie zu erklären, so die Studie.
Je höher die geforderte Qualifikation, desto schwieriger die Stellenbesetzung
Grundsätzlich gilt der Untersuchung zufolge auf dem Arbeitsmarkt derzeit die Regel: Je höher die geforderte Qualifikation, desto schwieriger wird die Besetzung offener Stellen. Besonders gesucht waren Expertinnen und Experten mit Hochschulabschluss in den Bereichen Informatik, Elektrotechnik, Bauplanung und -überwachung. Hier fehlten der Studie rechnerisch für neun von zehn offenen Stellen entsprechend qualifizierte Arbeitslose.
Fachkräftelücke wird ohne Zuwanderung nicht zu schließen sein
Der Mangel an geeigneten Fachkräften spiegelt sich längst am Arbeitsmarkt wider. Experten sind sich einig: Ohne Zuwanderung aus dem Ausland wird die Lücke nicht zu schließen sein. (Lesen Sie dazu: Arbeitsmigration nach Deutschland steigt stark).
Im März waren bundesweit mit 45,6 Millionen Erwerbstätigen so viele Menschen in Beschäftigung wie kaum jemals zuvor. Der Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung kam dabei praktisch ausschließlich durch Zuwanderer überwiegend von außerhalb der EU zustande, wie die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, bei der Vorlage der Zahlen betont hatte.
"Selbst wenn wir alle inländischen Potenziale heben, wird das auch aus demografischen Gründen nicht ohne weitere Zuwanderung gehen. Wir bauchen Einwanderung sowohl von Arbeits- als auch von Fachkräften." - Andrea Nahles, Chefin der Bundesagentur für Arbeit
Trotz Konjunkturflaute, Inflation und politischer Unsicherheiten: Industrie, Handwerk und Dienstleister saugen weiter Fachkräfte auf wie ein trockener Schwamm das Wasser. Teilweise würden die offenen Stellen gar nicht mehr den Arbeitsagenturen gemeldet, sondern direkt neu besetzt. Um die seit Monaten höchstens leicht sinkende Nachfrage zu decken, sei Zuwanderung notwendig, sagte Nahles: "Selbst wenn wir alle inländischen Potenziale heben, wird das auch aus demografischen Gründen nicht ohne weitere Zuwanderung gehen. Wir bauchen Einwanderung sowohl von Arbeits- als auch von Fachkräften." Das Bundeskabinett hat deshalb auch Ende März den Gesetzentwurf für eine Reform des Fachkräftseinwanderungsgesetzes beschlossen.
Fachkräftenachwuchs: Sinkende Ausbildungszahlen bremsen Hoffung auf Besserung
Auch der Blick auf den Fachkräftenachwuchs lässt wenig Hoffung auf baldige Besserung des Fachkräftemangels zu: Noch nie seit der Wiedervereinigung standen weniger junge Menschen in einem Ausbildungsverhältnis als zum Jahresende 2022, wie das Statistische Bundesamt vor einigen Tagen mitgeteilt hatte. Nur 1,216 Millionen Auszubildende sind auch das Ergebnis fehlender Praktika und Kontaktmöglichkeiten während der Corona-Pandemie, gleichzeitig aber auch Ausdruck einer schon länger anhaltenden Krise des dualen Ausbildungssystems.
Trotz dringend benötigtem Fachkräftenachwuchs wurden im vergangenen Jahr mit 468.900 Verträgen deutlich weniger neue Ausbildungen begonnen als im letzten Vorkrisenjahr 2019 mit 510.900 Neuverträgen. Die geringe Steigerung um 0,6 Prozent gegenüber 2021 kann die Lücken der Vorjahre nicht ausgleichen. Zehn Jahre zuvor waren es noch fast 100.000 Neuverträge pro Jahr mehr (2011: 561 100). Zudem nehmen die Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt immer mehr zu.
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