In § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO findet sich eine Kodifizierung des Grundsatzes der wirtschaftlichen Betrachtungsweise für das Steuerrecht. Demgemäß ist ein Wirtschaftsgut ausnahmsweise nicht dem zivilrechtlichen Eigentümer zuzurechnen, sondern demjenigen, der dauerhaft die tatsächliche Herrschaft und wirtschaftliche Ausschließungsbefugnis über das Wirtschaftsgut hat. Diese rechtliche oder tatsächliche Position wird teilweise als "wirtschaftliches Eigentum" bezeichnet. § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO definiert allerdings keinen eigenständigen steuerrechtlichen Eigentumsbegriff, sondern stellt lediglich eine Abweichung von der dem Eigentum folgenden Regelzurechnung dar.
Der Anwendungsbereich des § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO im Erbschaftsteuerrecht ist jedoch stark eingeschränkt. Der Grund hierfür ist der Charakter der Erbschaftsteuer als Erbanfallsteuer: Gegenstand der Erbschaftsteuer sind nicht Vermögensmassen zu bestimmten Stichtagen, sondern substanzielle Vermögensübertragungen. Das Erbschaftsteuerrecht knüpft daher nicht nur für die Voraussetzungen, sondern grundsätzlich auch bezüglich Umfang und Gegenstand des Erwerbs an das Zivilrecht an. Beispielsweise wird ein Grundstück des Erblassers auch Teil des steuerbaren Erwerbsvorgangs, wenn es vor dem Todeszeitpunkt verkauft wurde und gemäß § 39 Abs. 2 Nr. 1 ErbStG bereits dem Käufer zuzurechnen ist. Im Ergebnis sind die Erben dadurch jedoch nicht bereichert, da dem Ansatz des Grundstücks die Übereignungspflicht aus § 433 Abs. 1 S. 1 BGB entgegensteht, die mit dem gemeinen Wert bewertet wird. Interessanterweise werden diese Grundsätze trotz des eigenen steuerrechtlichen Schenkungsbegriffs auch auf Schenkungen unter Lebenden übertragen, soweit der Zuwendungsgegenstand das Eigentum an einer Sache ist. Insoweit wird auch die Schenkungsteuer bürgerlich-rechtlich geprägt.
Stellenweise findet § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO jedoch auch im Erbschaftsteuerrecht Anwendung. Gemäß § 195 BewG sind ein Grundstück und ein damit verbundenes Gebäude gesondert zu bewerten, wenn das Gebäude einer anderen Person als dem Eigentümer wirtschaftlich zuzurechnen ist (Gebäude auf fremden Grund).84 Hier fingiert das Steuerrecht eine Trennung von Grundstück und Gebäude. Eine weitere Ausnahme hat der BFH bei Grundstücksschenkungen etabliert. Dort entsteht die Steuer nicht erst mit Eintragung der Auflassung in das Grundbuch, sondern bereits mit dem Erwerb eines Anwartschaftsrechts. Abgesehen von diesen Ausnahmen ist das sogenannte wirtschaftliche Eigentum für das Erbschaftsteuerrecht jedoch ohne Belang.