Leitsatz
Der testamentarisch als Erbe eingesetzte, mit Beschwerungen belastete Pflichtteilsberechtigte kann auch nach der zum 1.1.2010 in Kraft getretenen Änderung des § 2306 Abs. 1 BGB dem zur Anfechtung der Annahme der Erbschaft berechtigenden Irrtum unterliegen, die Erbschaft nicht ausschlagen zu dürfen, um seinen Pflichtteilsanspruch nicht zu verlieren.
BGH, Urteil vom 29. Juni 2016 – IV ZR 387/16
Sachverhalt
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte Miterbin der am 25.1.2012 verstorbenen Erblasserin geworden oder ob sie pflichtteilsberechtigt ist, weil sie nach Anfechtung der Versäumung der Ausschlagungsfrist die Erbschaft wirksam ausgeschlagen hat.
Die Erblasserin, deren Ehemann 1998 vorverstorben war, hatte vier Kinder, darunter die Beklagte. Zwei Kinder waren vorverstorben. Der Kläger ist ein Enkel der Erblasserin. Sie hinterließ drei Testamente, vom 14.9.1994, 18.4.2007 und vom 18.8.2008, die am 5.3.2012 vom Nachlassgericht eröffnet wurden. Im Testament vom 18.4.2007 setzte die Erblasserin die Beklagte zur Miterbin zu 1/4 ein und zugunsten des Klägers sowie seiner zwei Geschwister ein Vorausvermächtnis hinsichtlich des Hausgrundstücks Kelterweg 29 in H. aus, welches sie in ihrem Testament vom 18.8.2008 wiederum mit einem Untervermächtnis, unter anderem zugunsten der Beklagten in Höhe von 15.000 EUR belastete. Der Kläger wurde von der Erblasserin zum Testamentsvollstrecker bestimmt. Die Beklagte erhielt im März 2012 Kenntnis von den letztwilligen Verfügungen.
Mit Schreiben vom 12.6.2012 erklärte die Beklagte die Anfechtung der Versäumung der Ausschlagungsfrist und gleichzeitig die Erbausschlagung. In dem Schreiben heißt es unter anderem:
"Ich wollte die Erbschaft in Wirklichkeit nicht annehmen, sondern habe die Frist zur Ausschlagung versäumt, weil ich in dem Glauben war, dass ich im Falle einer Ausschlagung vollumfänglich vom Nachlass ausgeschlossen wäre und zwar auch bzgl. von Pflichtteilsansprüchen und des zu meinen Gunsten eingeräumten Untervermächtnisses. Ich habe mich also über den rechtlichen Regelungsgehalt des § 2306 BGB geirrt, der zu einem Irrtum über die Rechtsfolgen der Nichtausschlagung führte.” "
In der Folgezeit forderte die Beklagte den Kläger unter Berufung auf ihren Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsanspruch zur Auskunft über den Bestand des Nachlasses auf. Dies lehnte der Kläger ab.
Der Kläger hat – soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung – beantragt festzustellen, dass er in seiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker die Beklagte als Miterbin zu einem Anteil von 1/4 anzusehen und für den aufzustellenden Teilungsplan entsprechend zu berücksichtigen hat. Die Beklagte ist dem entgegengetreten und hat ihrerseits Widerklage mit dem Antrag erhoben, den Kläger zu verurteilen, die Zwangsvollstreckung wegen der Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche gemäß der zugleich erhobenen Drittwiderstufenklage gegen die Drittwiderbeklagten zu 2 bis 12 in den Nachlass zu dulden. Mit der Drittwiderstufenklage begehrt die Beklagte von den Erben sowie Beschenkten der Erblasserin in der ersten Stufe Auskunft und Wertermittlung.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben und die Widerklage sowie die Drittwiderklage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt sie ihre Anträge zur Klagabweisung, Widerklage und Drittwiderklage weiter.
Aus den Gründen
Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Beklagte sei Erbin zu 1/4 geworden. Sie habe die unstreitig erfolgte Versäumung der Ausschlagungsfrist des § 1944 BGB nicht wirksam angefochten. Der Bundesgerichtshof habe zu § 2306 Abs. 1 BGB aF entschieden, dass ein Erbe die Annahme der belasteten Erbschaft anfechten könne, wenn sie auf der irrigen Vorstellung des Erben beruht habe, er dürfe sie nicht ausschlagen, um seinen Pflichtteilsanspruch nicht zu verlieren. Zwar werde die Frage, ob diese Rechtsprechung gemäß § 2306 BGB in der seit dem 1.1.2010 gültigen Fassung weiterhin Geltung beanspruche, im Schrifttum unterschiedlich beurteilt. Diese Frage brauche aber nicht entschieden zu werden, da die grundlegende Vorschrift des § 119 BGB, nach der sich die Frage des Vorliegens eines rechtlich erheblichen Irrtums im konkreten Einzelfall beurteile, im Zuge der Gesetzesnovelle nicht geändert worden sei. Nach den zutreffenden tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts habe der Irrtum der Beklagten darin gelegen, dass sie irrtümlich davon ausgegangen sei, im Falle einer Ausschlagung keine Teilhabe am Nachlass, insbesondere keinen Pflichtteilsanspruch zu haben. Sie habe gedacht, durch die Nichtausschlagung wenigstens das Untervermächtnis von 15.000 EUR zu erhalten. Auf die Frage, was sie sich gedacht habe, wenn sie die Erbschaft ausschlage, habe sie erklärt: "Dass ich nichts bekomme." Dem stehe jedoch bereits der Wortlaut des § 2306 Abs. 1 BGB nF entgegen. Außerdem sei die Beklagte vor Ablauf der Ausschlagung...