StVG § 17 Abs. 1; StVO §§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 2, 6, 11
Leitsatz
Das Vorliegen einer unübersichtlichen Engstelle begründet in erster Linie die Verpflichtung des wartepflichtigen Fahrzeugführers, auf dessen Fahrbahn sich das Hindernis befindet, die Geschwindigkeit in dem Maße herabzusetzen, dass er bei nahendem Gegenverkehr und Annäherung an die Engstelle sofort anhalten oder die Gegenfahrbahn räumen kann. Bei Annäherung an die Engstelle trifft auch den Bevorrechtigten eine erhöhte Sorgfaltspflicht, da er mit Gegenverkehr rechnen muss.
KG, Urt. v. 2.7.2007 – 22 U 198/06
Sachverhalt
Der Kläger hat Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 10.1.2006 geltend gemacht. Bei winterlichen Verhältnissen befanden sich auf der von dem Kläger mit seinem Pkw befahrenen Straße festgefahrene Schneereste, die eine Eisschicht mit Spurrille gebildet hatten. Die von dem Kläger befahrene Straße konnte nur in Fahrtrichtung des Klägers hindernisfrei befahren werden, da die aus der Fahrtrichtung des Klägers gesehene linke Fahrspur in unregelmäßigen Abständen zum Parken benutzt wurde. Dem Kläger kam der Beklagte zu 1) mit seinem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw in einer leichten Rechtskurve auf der Fahrspur des Fahrzeuges des Klägers entgegen. Der Beklagte zu 1) passierte ein in seiner Fahrtrichtung geparktes Fahrzeug und wich in eine vor einer Grundstücksausfahrt befindliche Lücke nach rechts aus. Der Kläger passierte das Fahrzeug des Beklagten noch teilweise und berührte mit seiner linken vorderen Ecke den rechten hinteren Kotflügel des Fahrzeuges des Beklagten. Das LG ging von einer hälftigen Haftungsverteilung aus. Dem folgte das Kammergericht nicht, sondern legte lediglich eine Mithaftung des Klägers von 25 % zu Grunde.
Aus den Gründen
“Die Berufung des Klägers hat teilweise Erfolg.
Der Kläger hat gegen die Beklagten unter Berücksichtigung der bereits vorprozessual gezahlten 5.159,25 EUR einen Anspruch auf Zahlung von weiteren 2.579,63 EUR nach § 823 BGB, §§ 7, 18 StVG i.V.m. § 3 PflVG. Die Beklagten haften für die Schäden des Klägers aus dem Verkehrsunfall vom 10.1.2006 zu 75 %, § 17 Abs. 1 StVG.
Unter Zugrundelegung des sich aus dieser Quote ergebenden Schadensersatzanspruchs kann der Kläger ferner die Freistellung von Anwaltskosten in Höhe von 123,96 EUR beanspruchen.
1. § 6 StVO beinhaltet nicht nur eine Regelung darüber, welches Fahrzeug zuerst an einer Engstelle vorbeifahren darf, wenn beim Passieren der Engstelle nicht mehr genug Platz für zwei nebeneinander befindliche Fahrzeuge verbleibt. D.h., die Vorschrift ist nicht erst dann einschlägig, wenn der am Hindernis Vorbeifahrende den Gegenverkehr wahrgenommen hat. Vielmehr ergeben sich aus § 6 StVO auch dieser Situation vorausgehende Sorgfaltspflichten des wartepflichtigen Fahrzeuges, auf dessen Fahrbahn sich das Hindernis befindet. Denn der Wartepflichtige kann seiner Wartepflicht nur dann sinnvoll nachkommen, wenn die nachfolgend beschriebenen Sorgfaltspflichten beachtet werden: Danach muss der Wartepflichtige vor einer unübersichtlichen Engstelle besonders vorsichtig prüfen, ob das Vorbeifahren den Gegenverkehr behindern würde. Ist an einer unübersichtlichen Engstelle Gegenverkehr nicht erkennbar, so darf nur mit größter Vorsicht an einem Hindernis unter Benutzung der Gegenfahrbahn vorbeigefahren werden, unter Umständen ist Schrittgeschwindigkeit einzuhalten, sodass bei Auftauchen eines entgegenkommenden Fahrzeuges sofort angehalten werden kann, d.h. wenn beim Vorbeifahren am Hindernis an unübersichtlicher Stelle jederzeit Gegenverkehr auftauchen kann, so muss der Vorbeifahrende sofort anhalten oder die Gegenfahrbahn räumen können (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 6 StVG Rn 4 m.w.N.). Es ist also der Wartepflichtige, der im besonderen Maße zur Vorsicht verpflichtet ist; dazu gehört, dass er bei Annäherung an die Engstelle die eigene Geschwindigkeit herabsetzt und beobachtet, ob nicht Gegenverkehr naht, vgl. OLG Karlsruhe, DAR 1989, 106.
Bei Beachtung der danach erforderlichen Sorgfalt hätte der Beklagte zu 1) in Anbetracht der Unübersichtlichkeit der Engstelle und der winterlichen Straßenverhältnisse seine Geschwindigkeit so herabsetzen müssen, dass es ihm jederzeit möglich gewesen wäre, umgehend zum Stehen zu kommen, was im konkreten Fall tatsächlich Schrittgeschwindigkeit bedeutet hätte.
2. Allerdings obliegen nicht nur dem Wartepflichtigen Sorgfaltspflichten – auch wenn er in erster Linie die Pflicht zur Prüfung hat, ob ein behinderungsfreies Passieren der Engstelle möglich ist, OLG Karlsruhe a.a.O. –, sondern auch der Bevorrechtigte hat Sorgfaltspflichten, die sich aus § 1 StVO (Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme) und § 11 StVO ergeben, wonach in besonderen Verkehrslagen der an sich vorrangige Fahrer auf sein Recht verzichten muss. Bei der hier vorliegenden Verkehrssituation (unübersichtliche Kurve, parkende Fahrzeuge auf der Gegenfahrbahn) musste auch der Kläger mit Gegenverkehr auf seiner Fahrbahnseite rechnen. Angesichts der Glätte wäre daher noch ein weiteres...