§ 9 AVB (ALB-RL)
Ein innerhalb der Karenzfrist begangener Suizid schließt Leistungen nicht aus, wenn auf Grund einer schweren Depression davon ausgegangen werden muss, dass die Tat einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen worden ist.
(Leitsatz der Schriftleitung)
LG Saarbrücken, Urt. v. 23.9.2008 – 14 O 357/06
Aus den Gründen:
“… Zwar ist die Beklagte gem. § 9 der AVB bei Selbsttötung des Versicherten innerhalb von 3 Jahren seit Zahlung des Einlösungsbeitrags nur dann zur Zahlung verpflichtet, wenn nachgewiesen wird, dass die Tat in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen wurde. So liegt der Fall aber hier. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Tat in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen wurde.
Ein Ausschluss der freien Willensbestimmung liegt vor, wenn jemand nicht im Stande ist, seinen Willen frei und unbeeinflusst von der vorliegenden Geistesstörung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln. Abzustellen ist dabei darauf, ob eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil infolge der Geistesstörung äußere Einflüsse den Willen übermäßig beherrschen (vgl. BGH WM 1984, 1063, 1064). Als krankhafte Störung der Geistestätigkeit können alle Störungen der Verstandestätigkeit sowie des Willens, des Gefühls und des Trieblebens in Betracht kommen. Das Vorliegen einer Geisteskrankheit ist nicht erforderlich. Voraussetzung ist nur, dass eine freie Entscheidung auf Grund einer nachvollziehbaren Abwägung von Für und Wider ausgeschlossen ist und eine sachliche Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte nicht möglich ist (vgl. BGH NJW 1970, 1680; KG VersR 2000, 86). Maßgeblich ist, ob der Versicherte im Stande war, seinen Willen unbeeinflusst von der vorliegenden Störung zu bilden, ob ihm also eine freie Willensentscheidung möglich war oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil die Willensbestimmung von unkontrollierten Trieben und Vorstellungen gesteuert worden ist (vgl. BGH VersR 1994, 162).
Die Beweislast für das Vorliegen eines derartigen Zustands im Zeitpunkt der Tat trägt die Klägerin. Allein die Tatsache, dass ein Selbstmörder ‘nicht normal’ ist, reicht für den Nachweis der Unzurechnungsfähigkeit nicht aus. Es lässt sich nicht von vornherein sagen, dass jeder, der sich das Leben nimmt, krankhaft in seiner Geistestätigkeit gestört gewesen sein muss. Dass die Tat unerklärlich scheint, dass ein bestimmter und ausreichender Beweggrund nicht dargetan werden kann, reicht allein ebenfalls nicht aus (vgl. OLG Köln OLGR 2002, 25).
Das Sachverständigengutachten legt unter zutreffender Würdigung. der erwiesenen Anknüpfungstatsachen überzeugend dar, dass dem Verstorbenen eine freie Entscheidung auf Grund einer nachvollziehbaren Abwägung von Für und Wider ausgeschlossen und eine sachliche Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte nicht möglich war …
Der Sachverständige ist in seinem Gutachten … unter Auswertung der nachgewiesenen Anknüpfungstatsachen zu dem Ergebnis gelangt, dass die Tat in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen wurde und nicht als Folge eigener freier Meinungsfindung.
Der Sachverständige hat darauf hingewiesen, dass sich Selbstmorde in vier verschiedene Kategorien aufteilen lassen, nämlich erstens in Fälle, die Tat in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen wurde, sodann als Folge eigener freier Meinungsfindung, wobei hier zwischen einem Bilanzsuizid, einem Freitod aus einer Weltanschauung heraus und dem beschleunigten Tod eines Schwerkranken, der nur noch eine kurze Lebenserwartung hat, differenziert wird. Bei dem Verstorbenen spricht eine schlüssige Indizienkette dafür, dass die Tat in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen wurde, nämlich in einem Zustand einer schweren Depression, die eine eigene freie Meinungsfindung ausgeschlossen hatte.
Nach dem Wechsel der Arbeitsstelle hat der Verstorbene über Rückenschmerzen und Schlafstörungen geklagt und sich über die Arbeit in der neuen Dienststelle beklagt. Der Rückzug von den Freizeitaktivitäten – Schwimmen und Schützenverein – wurde von allen Zeugen bestätigt. Dieser Rückzug ließe sich – worauf die Beklagte hinweist – zwar auch mit beruflicher Belastung erklären, nicht dagegen die damit einhergehende allgemeine Freud- und Interesselosigkeit des Verstorbenen. Bei einer bloßen beruflichen Belastung bliebe auch die affektive Schwingungsfähigkeit erhalten, nämlich ...