StVG § 7 Abs. 2 § 17 Abs. 2; StVO § 4 Abs. 1; ZPO § 286
Leitsatz
- Der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden kann allenfalls erschüttert sein, wenn eine grundlose Vollbremsung mit der nötigen Gewissheit i.S.d. § 285 ZPO bewiesen ist.
- Ein Sicherheitsabstand von 2 m auf das vorausfahrende Fahrzeug ist, gerade im außerörtlichen Verkehr, immer unzureichend und macht eine rechtzeitige Reaktion auf Fahrmanöver des Vorausfahrenden unmöglich.
- Unterschreitet der Auffahrende den gebotenen Sicherheitsabstand in besonders gravierender Weise (hier: 2 m Abstand statt gebotener 10 m), tritt die Betriebsgefahr des vorausfahrenden Fahrzeugs vollständig zurück, selbst wenn ein geringer Verstoß des Vorausfahrenden gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO vorliegen sollte.
OLG Hamm, Beschl. v. 31.8.2018 – 7 U 70/17
Sachverhalt
Das von dem Zeugen M gesteuerte Fahrzeug der Kl. fuhr beim Befahren des Kreisverkehrs auf den Pkw der Bekl. auf. Die Kl. machte wegen der an ihrem Pkw entstandenen Schäden Ersatzansprüche geltend und führte zur Begründung an, die Bekl. zu 2) habe bei der Ausfahrt aus dem Kreisverkehr ihr Fahrzeug abrupt abgebremst.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Kl. hatte keinen Erfolg.
2 Aus den Gründen:
"… [2] Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Der Kl. steht gegen die Bekl. kein Anspruch auf Schadensersatz aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall, der sich am 3.2.2016 gegen 14.50 Uhr in X außerorts auf der C Straße ereignet hat, nach §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 2, 3, 18 Abs. 1 S. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG zu."
[3] Die Bekl. haften bereits dem Grunde nach nicht.
[4] 1. Der Unfall beruht nicht auf höherer Gewalt i.S.d. § 7 Abs. 2 StVG.
[5] Ebenso wenig lässt sich feststellen, dass ein Fall des § 17 Abs. 3 StVG vorliegt. Denn dies setzt voraus, dass der Unfall durch ein für die Beteiligten unabwendbares Ereignis verursacht worden ist, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit des Fahrzeugs, noch einem Versagen seiner Vorrichtungen beruht, und sowohl Halter als auch Fahrer jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet haben (dazu u.a. OLG Düsseldorf, Urt. v. 6.2.2018 – 1 U 112/17, Rn 35, NJW 2018, 1694); Ein Idealfahrer anstelle der Bekl. zu 2) hätte darüber hinaus einen größeren Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug eingehalten.
[6] 2. Gem. § 17 Abs. 1 und 2 StVG hängt der Umfang der Haftung demnach von den Umständen des Einzelfalls ab, insb. davon, inwieweit der Unfall vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die Abwägung ist dabei aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder gem. § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, soweit diese sich nachweislich auf den Unfall ausgewirkt haben, wobei in erster Linie das Maß der Verursachung von Belang ist, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben, das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (vgl. BGH, Urt. v. 13.12.2016 – VI ZR 32/16, Rn 8, NJW 2017, 1177; OLG Hamm, Beschl. v. 21.12.2017 – 1-7 U 39/17, Rn 17, NJW-RR 2018, 474).
[7] Bei der nach diesen Maßstäben gebotenen Abwägung überwiegen die Verursachungsanteile auf Seiten der Kl. in einer Weise, dass ein etwaiger Haftungsanteil der Bekl. jedenfalls vollständig zurücktritt.
[8] a) Die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs ist durch einen Verkehrsverstoß des Zeugen M, dessen Verhalten sich die Kl. zurechnen lassen muss, erhöht worden.
[9] aa) Da der Zeuge M mit dem klägerischen VW Sharan auf das Fahrzeug der Bekl. zu 2) aufgefahren ist, spricht gegen ihn bereits der Anscheinsbeweis zulasten des Auffahrenden. Für die Annahme des Anscheinsbeweises genügt es, dass sich beide Fahrzeuge im gleichgerichteten Verkehr bewegt haben und zumindest eine teilweise Überdeckung der Schäden an Front und Heck vorliegt (KG Berlin, Beschl. v. 20.11.2013 – 22 U 72/13, juris). So liegen die Dinge hier: Der Sachverständige Prof. Dipl. Ing. T hat in seinem mündlich erstatteten Gutachten im Senatstermin vom 31.7.2018 unter Verweis auf die Anlagen A 20–23 seines Gutachtens ausgeführt, dass die Fahrzeuge nahezu längsachsenparallel zusammengestoßen sein müssen. Es kann, wenn überhaupt, nur einen ganz geringen Anstoßwinkel gegeben haben. In einer solchen Situation spricht der erste Anschein dafür, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 2 StVO). Denn der Kraftfahrer ist verpflichtet, seine Fahrweise so einzurichten, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht (BGH, Urt. v. 13. 12. 2016 – VI ZR 32/16, NJW 2017, 1177). Der Anscheinsbeweis kann nur durch feststehende Umstände – die unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen wurden – erschüttert werden (u.a. BGH, Urt. v. 13.12.2016 – VI ZR 32/16, Rn 11, NJW 2017, 1177; KG Berlin, Beschl. v. ...