[4] I. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

[5] Die Klägerin habe gegen die Beklagten als Gesamtschuldner einen Schadensersatzanspruch gemäß § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG. Es sei von einer hälftigen Schadensteilung auszugehen, da auf Seiten der Klägerin ein Verstoß gegen § 10 Satz 1 StVO und auf Seiten der Beklagten ein Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO bei gleichwertiger Betriebsgefahr vorliege.

[6] Zwar spreche der Anschein dafür, dass der vom Straßenrand Anfahrende die besonderen Sorgfaltsanforderungen des § 10 Satz 1 StVO missachtet habe, wenn es in unmittelbarem zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit dem Anfahren zu einer Kollision mit dem rückwärtigen fließenden Verkehr komme. Dieser Anscheinsbeweis gelte nach der bisher herrschenden Meinung auch gegenüber einem Fahrstreifenwechsler im fließenden Verkehr, da § 7 Abs. 5 StVO nach dieser Ansicht allein den fließenden Verkehr schütze. Gelinge es dem Anfahrenden nicht, diesen Anscheinsbeweis zu erschüttern, hafte er nach bislang herrschender Meinung allein für den Unfall. Die Betriebsgefahr des Unfallgegners aus dem fließenden Verkehr trete vollständig zurück, es sei denn, dieser sei erwiesenermaßen mit erhöhter Geschwindigkeit gefahren oder sonst unaufmerksam gewesen. An dieser Meinung sei nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Senatsurt. V. 15.5.2018 – VI ZR 231/17, VersR 2018, 957 Rn 12), nach der der "andere Verkehrsteilnehmer" im Sinne von § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO nicht nur ein Teilnehmer aus dem fließenden Verkehr, sondern jede Person sei, die sich selbst verkehrserheblich verhalte, also körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirke, nicht mehr festzuhalten. Diese Rechtsprechung sei auf den Begriff des "anderen Verkehrsteilnehmers" in § 7 Abs. 5 StVO übertragbar. Der Führer des Klägerfahrzeugs habe sich verkehrserheblich verhalten, indem er beabsichtigt habe, sein Fahrzeug vom Fahrbahnrand in den fließenden Verkehr einzureihen. Die Beklagte zu 1 habe § 7 Abs. 5 StVO verletzt, da sie den Fahrstreifenwechsel nicht so vollzogen habe, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer, auch des klägerischen Fahrzeugs, ausgeschlossen gewesen sei.

[7] II. Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils, soweit das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten zurückgewiesen hat. Die vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen rechtfertigen seine Annahme, die Beklagte zu 1 habe den Unfall schuldhaft mitverursacht, nicht.

[8] 1. Grundsätzlich ist die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG – wie im Rahmen des § 254 BGB – Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (Senatsurt. v. 15.5.2018 – VI ZR 231/17, VersR 2018, 957 Rn 10; v. 11.10.2016 – VI ZR 66/16, NJW 2017, 1175 Rn 7; jeweils m.w.N.). Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (Senatsurt. v. 15.5.2018 – VI ZR 231/17, VersR 2018, 957 Rn 10; v. 11.10.2016 – VI ZR 66/16, NJW 2017, 1175 Rn 7; jeweils m.w.N.). Einer Überprüfung nach diesen Grundsätzen hält die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung nicht stand.

[9] a) Das Berufungsgericht ist auf der Grundlage der getroffenen und von der Revisionserwiderung nicht angegriffenen Feststellungen allerdings im Ergebnis zu Recht von einem schuldhaften Verstoß des Führers des klägerischen Fahrzeugs gegen § 10 Satz 1 StVO ausgegangen. Nach § 10 Satz 1 StVO hat derjenige, der von einem anderen Straßenteil – hier aus einer Parkbucht – auf die Fahrbahn einfährt, sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge haben gegenüber dem vom rechten Fahrbahnrand an- und in die Straße einfahrenden Verkehr Vorrang (vgl. BGH, Beschl. v. 20.1.2009 – 4 StR 396/08, juris; v. 6.12.1978 – 4 StR 130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn 8). Auf diesen Vorrang gegenüber dem einfahrenden Verkehr dürfen die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge vertrauen (vgl. Senatsurt. v. 20.9.2011 – VI ZR 282/10, NJW-RR 2012, 157 Rn 9; BGH, Beschl. v. 6.12.1978 – 4 StR 130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn 8; Müller in Bachmeier/Müller/Rebler, Verkehrsrecht, 3. Aufl., § 10 StVO Rn 10). Der Vorrang gilt grundsätzlich für die gesamte Fahrbahn. Der Einfahrende hat sich darauf einzustellen, dass der ihm gegenüber vorrangig Berechtigte in diesem Sinne von seinem Recht Gebrauch macht. Auch das Befahren des linken Fahrstreifens durch den am fließenden Verkehr teilne...

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