Die Entscheidung der Kammer entspricht höchstrichterlicher sowie ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung. Das Ergebnis eines Stichentscheides ist lediglich für die Parteien nicht bindend, wenn dieser "offenbar von der tatsächlichen Sach- oder Rechtslage erheblich abweicht". Erheblich ist eine solche Abweichung, wenn der Stichentscheid die Sach- und Rechtlage "gröblich verkennt“. Offenbar ist die Abweichung, wenn sie sich "dem Sachkundigen nach gebotener Prüfung mit aller Deutlichkeit aufdrängt“ (OLG Karlsruhe r+s 2019, 263; OLG Düsseldorf VersR 2006, 649; Harbauer/Schmitt, Rechtsschutzversicherung, 9. Aufl., ARB 2010 § 3a Rn 52; Prölss/Martin/Piontek, VVG, 31. Aufl., § 3a ARB 2010 Rn 41).""
Die Darlegungs- – bzw. soweit es auf Tatsachenfragen ankommt – die Beweislast hierfür trägt jedoch derjenige, der sich auf die offenbare, erhebliche Abweichung beruft (BGH NJW-RR 1990, 922; OLG Düsseldorf VersR 2006, 649; OLG Köln NJW-RR 2003, 392; Prölss/Martin/Piontek, VVG, 31. Aufl., § 3a ARB 2010 Rn 45), im Regelfall also der Rechtsschutzversicherer. Der Stichentscheid ist seiner Konzeption nach, ein effektives Mittel, um Deckungsschutz in der Rechtsschutzversicherung zu erlangen, wenn der VR zunächst wegen (aus seiner Sicht) mangelnden Erfolgsaussichten die Deckung ablehnt. In der Praxis ist zunehmend zu beobachten, dass Rechtsschutzversicherer zwar zunächst korrekterweise auf die Möglichkeit des Stichentscheids hinweisen. Wird ein solcher sodann beigebracht, ist immer häufiger zu beobachten, dass seitens des Rechtsschutzversicherers der Stichentscheid ohne tragfähige Begründung für ungenügend und damit nicht bindend erachtet wird. Dies widerspricht dem eigentlichen Sinn und Zweck des Stichentscheides, nämlich für den Versicherten zügig Rechtsklarheit zu verschaffen (BGH r+s 2003, 363), was vor allem in einer Konstellation wie hier im Rahmen der Berufungseinlegung aufgrund laufender Fristen von Bedeutung ist.
Sofern sich ein Rechtsschutzversicherer – wie vorliegend – hierbei jedoch lediglich auf die Begründung des Erstgerichts bezieht, ist es nach dem Urteil der Kammer ausreichend, dass sich der hiergegen gerichtete Stichentscheid mit diesen Gründen auseinandersetzt (in diese Richtung auch: OLG Köln NJW-RR 1987, 1513). Das Urteil eines Erstgerichts kann demnach gerade nicht pauschal den Nachweis einer offenbaren und erheblichen Abweichung von der tatsächlichen Sach- und Rechtlage ersetzen, da somit das Instrument des Stichentscheides in Sachverhalten, in denen es um die Deckung der Berufungsinstanz geht ad absurdum geführt würde. Demnach kommt auch ein "Nachschieben" von Gründen nach ständiger Rechtsprechung (OLG Hamm, Urt. v. 12.5.2021 – 20 U 36/21; OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.6.2019 – 4 U 111/17; OLG Naumburg, Urt. v. 7.7.2016 – 41 U 7/16) nicht in Betracht. Es ist damit ausreichend, aber auch erforderlich, dass sich der Stichentscheid mit den vom VR angeführten Ablehnungsgründen (welche hier den Gründen des Erstgerichts entsprachen) auseinandersetzt (OLG Naumburg VersR 2017, 882, OLG Hamm r+s 2012, 117, OLG KöIn r+s 1987, 72), da es diesem sonst möglich wäre die Klärung seiner Einstandspflicht in den nachfolgenden Deckungsprozess zu verlagern.
Der Anwaltschaft ist zu raten, den Stichentscheid mit einem strukturierten Aufbau und Inhalten anhand dieser Vorgaben zu erstellen. Die Rechtsschutzversicherer werden daraufhin die Vorgaben der Rechtsprechung zu beachten haben und sofern es nicht gelingt, darzulegen, dass der Stichentscheid offenbar von der tatsächlichen Sach- und Rechtslage erheblich abweicht, diesem auch die vertraglich vereinbarte Bindungswirkung beizumessen.
RA Lukas Binner und RA Dr. Christoph Lindner, Rosenheim und Regensburg
zfs 2/2024, S. 100 - 103