Lässt sich aufgrund der obigen Vermutung für den Regelfall annehmen, dass der Geschädigte eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hätte, kommt es im nächsten Schritt darauf an, festzustellen, welche Ausbildung und welchen Beruf der Geschädigte ohne das schädigende Ereignis ergriffen hätte. Hier liegen die eigentlichen Schwierigkeiten, denn so individuell die persönlichen Fähigkeiten und Leistungen jedes Einzelnen sind, so individuell sind auch die persönliche Berufswahl und insbesondere die berufliche Entwicklung jedes Einzelnen.
Für die Prognose der Ausbildungs- und Berufswahl sind grundsätzlich alle Umstände heranzuziehen, denen insoweit Indizcharakter zukommt. Hier kommen im Wesentlichen drei Kriteriengruppen in Betracht. Dies sind:
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Persönliche Eigenschaften des Geschädigten |
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Soziales Umfeld des Geschädigten |
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Sonstige Umweltbedingungen. |
Hierzu ergeben sich aus der Rechtsprechung einige Orientierungssätze, mit deren Hilfe sich die Erfolgsaussichten eines Begehrens verlässlicher abschätzen lassen.
1. Je später die Verletzung erfolgt, desto stärker finden persönliche Leistungsausweise Eingang in die Prognoseentscheidung.
Weil die Berufswahl in besonderer Weise individuell und persönlich ist, stehen im Mittelpunkt der Beurteilung zuallererst die persönlichen Eigenschaften des Geschädigten, also seine intellektuelle Befähigung, seine Begabungen und seine Neigungen, aber auch seine charakterliche Erscheinung wie Willenskraft, Beharrungsvermögen und Durchsetzungsfähigkeit sowie – jedenfalls wo dies eine Rolle spielt – die körperlichen Möglichkeiten, wobei insbesondere Vorerkrankungen und Behinderungen prognostisch eine Rolle spielen können. Von Bedeutung sind hier in erster Linie all die Leistungs- und Begabungsausweise, die der Geschädigte vor der Verletzung gesammelt hat. Schulzeugnisse, Einschätzungen der Lehrer/-innen, sportliche, musikalische oder andere außerschulische Erfolge und Begabungsausweise können von Bedeutung sein. Weil die Prognose jedoch nicht auf den Zeitpunkt der Verletzung abstellt, sondern auf den Wissenstand der letzten mündlichen Verhandlung, kann auch das Verhalten nach der Schädigung herangezogen werden. Gerade wenn der infolge der Verletzung eingeschränkt Erwerbsfähige mit Erfolg einen anderen Beruf ergreift und hierbei hohe Motivation und Beharrungsvermögen an den Tag legt, spricht dies für das Erreichen auch ehrgeizigerer Berufsziele.
2. Je früher die Verletzung erfolgt, desto stärker dient das soziale Umfeld des Verletzten der Orientierung.
Das soziale Umfeld des Geschädigten, also insbesondere die Berufs- und Einkommenssituation der Eltern und der Geschwister, aber auch die Familientradition oder der Berufsweg im weiteren Verwandtenkreis, rückt dagegen in den Vordergrund, wo der Ausweis persönlicher Eigenschaften vergleichsweise gering ist. Dies wird insbesondere bei Geburtschädigungen oder Verletzungen im Vorschul- oder Grundschulalter relevant, in denen weder Zeugnisse noch andere Leistungs- und Befähigungsnachweise vorhanden sind.
Dem liegt die Annahme zugrunde, dass es zwar nicht sicher aber jedenfalls wahrscheinlicher ist, dass Kinder einen ähnlichen beruflichen Erfolg wie Eltern und Geschwister erreichen. So jedenfalls hatte ein sachverständig beratenes Berufungsgericht argumentiert und fand damit beim VI. Zivilsenat Gehör. Hiervon ausgehend hat der BGH festgehalten, dass bei Schädigung jüngerer Kinder der Beruf, die Vor- und Weiterbildung der Eltern, ihre Qualifikation in der Berufstätigkeit, ihre beruflichen Pläne für das Kind sowie die schulische und berufliche Entwicklung von Geschwistern herangezogen werden können. Im Fall eines seit seiner Geburt Hörgeschädigten bestätigte er damit die Prognose des Berufungsgerichts, wonach der Kläger zwar nicht das von ihm behauptete Informatikstudium absolviert hätte, aber einen seinem Vater und Bruder vergleichbaren beruflichen Weg als nicht akademisch ausgebildeter Kommunikationstechniker eingeschlagen hätte.
Auch sonst finden sich einige veröffentlichte Entscheidungen, in denen die Gerichte ihre Prognose an dem familiären Umfeld des Geschädigten orientiert haben. So in einem Fall, bei dem sich das OLG Schleswig an der beruflichen Entwicklung des Zwillingsbruders orientiert und auch dem infolge eines Geburtsschadens schwerstbehinderten Kläger eine Ausbildung zum Bäckergesellen prognostiziert hatte. Bemerkenswert ist auch die Fallgestaltung, die dem LG Münster zur Entscheidung vorlag. Hier hatte die schwerstgeschädigte Klägerin, die zum Verletzungszeitpunkt 9 Jahre alt gewesen war, behauptet, sie hätte ohne die Schädigung entsprechend dem nichtakademischen Umfeld ihrer Eltern und Geschwister mit 16 Jahren eine Ausbildung zur Industriekauffrau begonnen und anschließend als solche gearbeitet. Die Gegenseite hatte sich indes auf die bis zur Verletzung erbrachten guten schulischen Leistungen der Klägerin berufen und behauptet, diese hätte sicherlich ein Gymnasium besucht und ihr Abitur erreicht. Das LG hat diesen Einwand ...