Liebe Leserinnen und Leser,
liebe Freunde der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht,
das neue Jahr ist kaum gestartet, da blicken wir bereits auf das erste verkehrsrechtliche Highlight zurück: Nach der letztjährigen Sommeredition trat der 61. Deutsche Verkehrsgerichtstag in diesem Jahr vom 25.–27.1. zusammen. Wie in jedem Jahr wurden die wesentlichen Themen des Verkehrsrechts vorgestellt, diskutiert und Empfehlungen an Politik und Rechtsprechung verabschiedet.
Erneut schafften es die E-Scooter auf die Tagesordnung, diesmal unter dem Gesichtspunkt der Fahruntauglichkeit des Fahrers und der Anwendbarkeit der für den Pkw-Verkehr entwickelten Promillegrenzen. U.A. waren Themen wie ärztliche Meldepflichten bei fahruntauglichen Personen, die Fahrtenbuchauflage als eine Art Halterhaftung durch die Hintertür und die Verwertung von Fahrzeug(mess)daten aus modernen Fahrzeugen weitere Kernpunkte der Diskussionen.
Der Arbeitskreis IV, dessen Pforten schon in der Anmeldephase zum VGT vorzeitig wegen Überfüllung geschlossen wurden, befasste sich mit zwei wesentlichen Fragen des Schadensersatzrechts: Zunächst wurde leidenschaftlich um die Frage gestritten, ob die 130 % Rechtsprechung noch zeitgemäß ist? Die in der Literatur bereits durchaus erheblich kritisierte Auffassung, der Geschädigte könne einen Integritätszuschlag verlangen, stand auf dem Prüfstand. Das Auto "verkomme" immer mehr zu einem Gebrauchsgegenstand, an dem lediglich noch ein Fortbewegungs- denn ein echtes und vor allem schützenswertes Integritätsinteresse bestünde. Demgegenüber sieht sich der Geschädigte nach einem Unfall mit einem teilweise abenteuerlich operierenden Gebrauchtwagenmarkt konfrontiert und sei schon deshalb schutzbedürftig. Zudem diskutierte der Arbeitskreis die Frage des Eingriffs des Schädigers in die Fahrzeugreparatur durch Überprüfung der Schadenshöhe auch in der konkreten Abrechnung. Dazu ist die bisherige Linie des BGH weitestgehend klar. Warten wir nun gespannt, ob der BGH hier Korrekturen vornimmt oder ob es zu diesen Punkten bei dem "alten" System verbleibt. Der Arbeitskreis IV jedenfalls befürwortet im Wesentlichen die Beibehaltung des bisherigen modus operandi.
Im AK III stand erneut ein Digitalisierungsthema auf der Tagesordnung: KI-Haftung im Straßenverkehr und die (zivilrechtliche) Haftung beim autonomen Fahren. Wer hält (haftungsrechtlich) den Kopf hin, wenn ein autonom fahrendes Fahrzeug Fußgänger, Verkehrsschilder oder endende Fahrstreifen nicht erkennt? Auch hier bleibt abzuwarten, ob die Haftung auf den Hersteller ausgeweitet wird oder doch beim Halter verbleibt, der seit jeher für die Gefährdung einzustehen hat. Die Zukunft bleibt hier ganz sicher spannend. Klar ist, dass wir in den nächsten Jahren immer mehr Berührungspunkte mit der neuen Fahrzeugtechnik haben werden, sei es aufgrund von Unfällen, Ordnungsmaßnahmen gegen schlafende Fahrer oder zu ahndender Verkehrsverstöße der KI. Nach der Empfehlung des Arbeitskreises soll es unbedingt bei der bisherigen Gefährdungshaftung bleiben. Zu gegebener Zeit soll dann die Übertragung der Verantwortung auf den Hersteller des Fahrzeugs erneut geprüft werden.
Für den Fall, dass Sie sich an der Diskussion dieser und weiterer Themen beteiligen möchten, darf ich Ihnen wärmstens die Teilnahme am diesjährigen (11.) Verkehrsanwaltstag in Berlin am 21./22.4. empfehlen. Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht erhalten rabattierten Zugang zu insgesamt zehn Fachfortbildungsstunden mit interessanten und abwechslungsreichen Vorträgen. Neumitglieder nehmen sogar kostenlos teil! Diejenigen unter Ihnen, die es vorziehen, aus der Ferne teilzunehmen, haben die Möglichkeit, online zuzuschauen und sich einzubringen, denn der Verkehrsanwaltstag wird auch in diesem Jahr wieder als Hybridveranstaltung angeboten.
Wir sehen uns also in Berlin. Bis dahin wünscht Ihnen alles Gute, Ihr
Autor: Jan Lukas Kemperdiek
RA Jan Lukas Kemperdiek LL.M., FA für Medizinrecht, Verkehrsrecht und Versicherungsrecht, Hagen
zfs 3/2023, S. 121