BGB § 254 Abs. 1; StVO § 1 Abs. 2 § 3 Abs. 1 § 41 Abs. 2 Nr. 5
Leitsatz
1) Das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers in der Form einer zu heftigen und objektiv nicht erforderlichen Bremsreaktion stellt kein Verschulden dar, wenn der Verkehrsteilnehmer in einer ohne sein Verschulden eingetretenen nicht vorhersehbaren Gefahrensituation keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgerechte unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung falsch reagiert.
2) Werden Rad- und Fußgängerwege auf jeweils nur optisch voneinander getrennten Verkehrsflächen so dicht aneinander vorbeigeführt, dass es im Begegnungsverkehr zu gefährlichen Situationen kommen kann, entsteht bei kritischen Situationen eine erhöhte Pflicht von Radfahrern zur Rücksichtnahme auf Fußgänger, der der Radfahrer durch ein seitens des Fußgängers reaktionsloses Klingelzeichen nicht nachkommt.
(Leitsätze der Schriftleitung)
BGH, Urt. v. 4.11.2008 – VI ZR 171/07
Sachverhalt
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen eines Fahrradunfalls vom 1.9.2004 auf materiellen und immateriellen Schadensersatz in Anspruch.
Der Kläger fuhr mit seinem Fahrrad auf einem farblich markierten Radweg auf eine Bushaltestelle zu, die sich aus seiner Sicht links neben dem Radweg befand. Die Beklagte stand zu diesem Zeitpunkt auf der gepflasterten Freifläche der Bushaltestelle mit dem Rücken zum Kläger dicht am Radweg und unterhielt sich mit zwei Personen, die sich rechts vom Radweg auf dem Gehweg in Höhe eines Kiosks aufhielten. Als sich der Kläger der Personengruppe bis auf eine Entfernung von 10 m genähert hatte, klingelte er, um auf sich aufmerksam zu machen. Seine Geschwindigkeit reduzierte er nicht. Im Zuge seiner weiteren Annäherung machte die Beklagte eine Körperbewegung in Richtung auf den Radweg, wobei sie diesen nur leicht mit dem Fuß berührte. Der Kläger machte infolgedessen eine Vollbremsung, bei der das Vorderrad blockierte, das Fahrrad vornüber kippte und der Kläger über den Fahrradlenker zu Boden stürzte.
Der Kläger, der keinen Fahrradhelm trug, erlitt einen Unfallschock, eine Schürfwunde am Stirnbein rechts, eine Risswunde am rechten Ohr durch einen Brillenbügel, eine Prellung und Hämatome an der Schulter, eine Quetschung der Rotatorenmanschette sowie eine Prellung des linken Zeigefingers. Bereits vor dem Unfall war der Kläger auf dem rechten Ohr völlig taub und auf dem linken teilweise hörgeschädigt. Der Kläger hat zunächst mit seiner Klage ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 5.000 EUR, sowie eine Verurteilung der Beklagten zum Ersatz seines materiellen Schadens in Höhe von 120,67 EUR geltend gemacht. Das LG hat dem Kläger unter Berücksichtigung eines mit 70 % bewerteten Mitverschuldens ein Schmerzensgeld in Höhe von 300 EUR und auf den geltend gemachten materiellen Schaden einen Betrag von 36,20 EUR zuerkannt. Auf die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers, mit der er den Mindestbetrag des Schmerzensgeldes auf 3.000 EUR reduziert hat, hat das Berufungsgericht unter Zurückweisung der weiter gehenden Berufung in Abänderung des erstinstanzlichen Urteils dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 2.000 EUR und den geltend gemachten materiellen Schaden von 120,67 EUR in vollem Umfang zugesprochen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit das Berufungsgericht zu ihrem Nachteil entschieden hat.
Aus den Gründen
Aus den Gründen: [4] „I. Das Berufungsgericht, dessen Urteil in NZV 2007, 614 veröffentlicht ist, meint, die Beklagte hafte in vollem Umfang für alle unfallbedingten materiellen und immateriellen Schäden des Klägers; dieser müsse sich unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Mitverschulden an der Entstehung des Schadens anspruchsmindernd anrechnen lassen. Die Beklagte, die hinsichtlich eines Mitverschuldens des Klägers darlegungs- und beweisbelastet sei, habe nicht bewiesen, dass der Kläger unter Verstoß gegen § 3 Abs. 1 StVO ein höheres Ausgangstempo als die von ihm eingeräumte Annäherungsgeschwindigkeit von 15 km/h innehatte. Die von der Beklagten beantragte Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Nachweis ihrer Behauptung, der Kläger sei annähernd doppelt so schnell wie von ihm behauptet gefahren, sei nicht veranlasst, denn es fehle an den für eine unfallanalytische Auswertung notwendigen Anknüpfungstatsachen. Die Höhe der vom Kläger eingeräumten Annäherungsgeschwindigkeit von 15 km/h sei nicht zu beanstanden. Dem Kläger könne nicht angelastet werden, in einer Überreaktion fehlerhaft gebremst zu haben. Der Umstand, dass die Reaktion des Klägers zur Vermeidung einer befürchteten Kollision möglicherweise heftiger ausgefallen sei als nach den Umständen objektiv erforderlich, gereiche dem Kläger nicht zum Vorwurf eines mitwirkenden Verschuldens. Der Kläger habe aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert, weil die Beklagte in einer für den herannahenden Kläger überraschenden – weil unter Missachtung des vorherigen Klingelzeichens e...