Beim Auffahren spricht grds. der Beweis des ersten Anscheins gegen den Auffahrenden, der entweder den nötigen Sicherheitsabstand gem. § 4 Abs. 1 S. 1 StVO nicht eingehalten hat, die der Verkehrssituation entsprechende Geschwindigkeit überschritten hatte (§ 3 Abs. 1 S. 1 StVO) oder nicht aufmerksam genug gefahren ist (§ 1 Abs. 2 StVO).
1. Diese Beurteilung lässt sich jedoch nicht ohne Modifikationen beibehalten, wenn vor dem Auffahren ein Fahrspurwechsel des Vorausfahrenden und späteren Opfers des Auffahrunfalls stattgefunden hatte und es sowohl streitig ist, ob der Wechsel unmittelbar vor dem Anstoß durchgeführt wurde und ob der später Auffahrende sich nicht mehr darauf einstellen konnte, weil er in seiner Fahrspur geschnitten worden ist.
Der BGH verneint für den Fall fehlender Aufklärung der sonstigen Umstände des Auffahrens den Fortbestand eines gegen den Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweises und leitet dies daraus ab, dass bei der Prüfung, ob ein typischer Geschehensablauf vorliege, der zur Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises führe, nicht allein auf den so genannten Sachverhaltskern, hier das Auffahren, abgestellt werden dürfe, sondern eine Gesamtschau des Geschehensablaufs geboten sei (vgl. BGH VersR 1996, 772; von Pentz, zfs 2012, 64, 68; Lepa, NZV 1992, 129, 130). Die Beurteilung der Typizität eines Geschehens lässt sich nur durch die Würdigung des Gesamtgeschehens, nicht durch das Abstellen auf den schließlich zur Schädigung führenden letzten Teilakt treffen. Der BGH betont, dass beide Varianten, Fahrfehler des Auffahrenden und Schneiden der Fahrspur des Hinterherfahrenden durch den Vorausfahrenden in Betracht kommen, sodass sich die Annahme eines gegen den Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweises verbietet (vgl. auch eingehend von Pentz, in: Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht des DAV, 2011, S. 7 (26-32).
2. Da der Anscheinsbeweis an statistische Überlegungen dadurch anknüpft, dass er von der Lebenserfahrung ausgehend einen Vorgang dahin deutet, dass er auf einer bestimmten Ursache beruht, kann ein Auffahrunfall bei fehlender Klärung aller Umstände nicht allein dahin gedeutet werden, dass nur ein Fehlverhalten des Auffahrenden die Ursache gewesen sei.
3. Zu dieser Überlegung gelangt die Prüfung nicht, wenn das Beschädigungsbild beider Fahrzeuge darauf hin deutet, dass das vorausfahrende Fahrzeug in einem so engen Abstand vor das Fahrzeug des später Auffahrenden eingeschert war, dass dieser keinen Sicherheitsabstand mehr aufbauen konnte. Das ist dann der Fall, wenn kein auf einem achsparallelen Zusammenstoß deutendes Schadensbild vorliegt, sondern ein Streifzusammenstoß gezeichnet worden ist. Bei dieser Konstellation ist ein Fahrfehler des Auffahrenden ausgeschlossen, vielmehr ein Schneiden der Fahrspur des später Auffahrenden durch den Vorausfahrenden anzunehmen (vgl. auch KG DAR 2008, 87; Quaisser, NJW-spezial 2011, 585).
RiOLG a.D. Heinz Diehl, Neu-Isenburg